Donnerstag, 18. April 2013

Stillgehalten

Die Union und die Quote: Zu wenig Demokratie gewagt


Am Ende ging es gar nicht mehr um die Frauenquote, ob fest oder flexi, heute oder übermorgen – im Bundestag wurden am Donnerstag noch einmal die bekannten Argumente ausgetauscht, und nach der erwartbaren Debatte folgte das Ergebnis, das kommen musste: berechenbar nach den Mehrheitsverhältnissen, denen frei gewählte Abgeordnete ihre Überzeugungen unterordnen, wenn es der Fraktionszwang oder ein Parteitagsbeschluss gebieten. Die Verfassung kennt weder das eine noch das andere, sie bindet die Entscheidungsfreiheit eines jeden Parlamentsmitglieds allein an sein Gewissen. Die unterlegenen Frauen und Männer der Regierungskoalition, die den Antrag der Opposition für eine gesetzliche Quotenregelung angeblich so gerne mitgetragen hätten und nun weitere Jahre auf die Freiwilligkeit der Wirtschaft vertrauen, werden wohl auch ihr Stillhalteabkommen irgendwie mit ihrem Gewissen vereinbaren – und den gefundenen Kompromiss im bevorstehenden Wahlkampf als Erfolg verkaufen müssen. So ist Politik.
Aber diese Machtprobe bleibt für alle Beteiligten eine Niederlage, besonders schmerzhaft für die CDU, deren erste Spitzenfrau das Parteivolk doch so flexibel wie keine andere Führungskraft vor ihr auf den Zeitgeist einzustellen weiß. Angela Merkel, die sonst so versierte Taktikerin der Macht, hätte jedes Abstimmungsergebnis über die Quote vertreten können; auch ein fraktionsübergreifendes Votum für den Gesetzentwurf von SPD und Grünen: Der große parlamentarische Konsens für die gesetzliche Frauenquote in Aufsichts- und Verwaltungsräten wäre als deutliches Bekenntnis zur Gleichstellung der Geschlechter auch in der Bevölkerung mitgetragen worden. Thema abgeräumt, Debatte beendet.
Nein, die Frauenquote wird nicht wahlentscheidend sein. Euro, Arbeit, Sicherheit: Es gibt Wichtigeres. Die Union, geschweige denn die Koalition, wäre an dieser Frage gewiss nicht zerbrochen, selbst wenn offen und heftig diskutiert worden wäre. Und offenbar sehen das die Ministerinnen Ursula von der Leyen und Kristina Schröder und die meisten ihrer Mitstreiterinnen und Unterstützer ganz genauso. Es war ihnen nicht wichtig genug. Andernfalls hätten sie mehr Mut gezeigt, mehr Demokratie gewagt.
Es hätte sie wenig gekostet, ihrem Willen zu folgen, für die politische Überzeugung und das gemeinsame Anliegen mit der Opposition einzustehen und ihre gesetzgeberische Macht als Parlamentarier zu nutzen. Stattdessen haben sich die Befürworter der gesetzlichen Quote auf ein Wahlversprechen des Unionsfraktionschefs Volker Kauder vertrösten lassen. Sie wird schon kommen, die Quote, gleich nach der Wahl, wenn wir sie gewinnen, und wenn die Wirtschaft dann nicht freiwillig Frauen vorlässt ... und wenn Worte nicht bloß Worte bleiben.
Auch so ist Politik. Manchmal sind Kompromisse eben faul. Sie werden nicht dadurch glaubwürdiger, dass man sie nachträglich noch betanzt. Niemand verlangt von Verlierern, sich über eine Niederlage zu freuen. Aber in dieser Frage hätte es gar nicht viel Mut gekostet, standhaft zu bleiben – um der Selbstachtung willen und aus Respekt vor dem Mandat des Abgeordneten. Es ist immer auf Zeit geliehen. Auch noch so strenge Partei- und Fraktionsdisziplin vermögen den Aufenthalt im Parlament nicht zu verlängern, wenn sich bei Wählern der Eindruck verfestigt, Parlamentarier lassen sich ihre Überzeugungen abkaufen. Frauen, die stillhalten, nutzen der Gleichstellungspolitik wenig. | Stephan Wiehler

Leitartikel im Tagesspiegel vom 19. April 2013

Freitag, 5. April 2013

Wohnen ist so immobil


Ach, liebe Leserinnen und Leser, das große Drama dieser Stadt ist, dass Glanz und Elend so nah beieinanderliegen. Mitunter fällt es schwer, das eine vom anderen zu unterscheiden. In anderen Großstädten wie Gelsenkirchen oder Kinshasa würden sich die Menschen über ein wenig Gentrifizierung (von engl. gentry: Adel), also den Zuzug von Wohlhabenden und die Aufwertung von Stadtteilen, freuen. In Berlin bleibt man lieber unter sich, alles soll besser bleiben, wie es ist, auch auf die Gefahr hin, dass bald wieder Balkone abstürzen. Die Folgen: Wohnungsnot und Preisanstieg. Es trifft alle: Alte, Arme, Alleinerziehende – auch Minderheiten wie Familien mit Kindern. Sogar die Begabten, die künftigen Eliten. Allein 900 Bewerber für einen Wohnplatz stehen vor Beginn des neuen Semesters auf der Warteliste des Berliner Studentenwerks. Neue Wohnheime sollen gebaut werden. Doch bis sie stehen, ist Kreativität gefragt. Hey, Kreativität ist unser zweiter Vorname! Wir hätten ein paar Ideen, wo Studierende schnell und günstig unterkommen könnten:

Campus Tempelhof

Das größte Gebäude der Stadt steht größtenteils leer, teilweise im Rohbau. Die US-Alliierten hinterließen am ehemaligen Flughafen Turnhallen, Cafeterias, Gemeinschaftssäle. Mit ein paar hundert Etagenbetten und gutem Willen ist hier in wenigen Monaten ein prima Studentendorf gestemmt, mit U- und S-Bahn-Anschluss – und in ein paar Jahren steht gleich nebenan die neue Landesbibliothek.

Kommune 2.0

Sie waren die ersten Gentrifizierer in Berlin: Auf der Straße riefen sie nach Ho Chi Minh, zu Hause richteten sie sich teuer ein. Mit den 68ern kamen italienisches Design, gut sortierte Weinläden, Edelgastronomie. Inzwischen sind sie Architekten, Anwälte oder frühpensionierte Lehrer; die Kinder sind aus dem Haus und in ihren Charlottenburger 190-Quadratmeter-Wohnungen wäre viel Platz für studentische Untermieter. Also Genossen: Lasst mitwohnen! Sonst wird enteignet.

Schnell gebaut und auch im Winter bewohnbar: Scube-Park in Neukölln.


Containerdorf im Plänterwald

Im früheren Vergnügungspark plant ein Investor 400 Wohnplätze für Studenten in Containern. Wenn sich endlich ein Betreiber für den Spreepark findet, könnten dort auch Studentenjobs entstehen: vom Karussellbremser bis zum Zuckerwattedreher.

Mobilstudium

Hipster wissen: Wohnen ist total immobil. Heute wird unterwegs studiert. W-Lan ist überall, Kneipen kennen keine Sperrstunde. Geschlafen wird auf dem Notebook-Deckel, in der Bahn oder in den Semesterferien – bei Mutti zu Hause oder in Thailand am Strand.


Erschienen im Tagesspiegel vom 6. April 2013
Sonnabendbeilage MEHR BERLIN

Gott sei Dank, es war doch kein Permafrost!

Liebe Berliner Gartenfreunde, 

wir hatten es nicht mehr erwartet nach diesem finsteren Winter. Aber der Lenz streckt seine müden Glieder, langsam kommt er aus dem Knick. Es geht wieder los, also nichts wie raus: Endlich wieder Hammel schlachten im Tiergarten, die Aquakultur im Spreebogen ansetzen, das Saatgut aufs Tempelhofer Feld hinausstreuen, den Prinzessinnengarten düngen. Die Guerilla Gardening Saison ist eröffnet. Präsentiert die Krabber, Rechen, Unkrautstecher, Spaten und Spieße - auf zum fröhlichen Graben, Vertikutieren und Einpflanzen! Kein Frühlingssturm, kein Aprilregen, kein Hagel soll uns abhalten von unserem seligen Schöpferwerk: Der Natur auf jedem freien Flecken Erde dieser Stadt, auf jeder Brache zum ersprießlichen Durchbruch zu verhelfen, die zarten Knospen unseres Schaffens zur allergeilsten Blüte zu treiben. In diesem Sinne: Säet und setzet, heget und pfleget. Frisch auf, Naturvolk der Großstadt! Lass es fruchten! Oder kurz gesagt:



"Abgedichtet" in MEHR BERLIN, Tagesspiegel vom 6. April 2013