Neunter
November, Schicksalstag der Deutschen. Was soll das sein, das Schicksal einer
Nation? Fügung, Geschick, Vorsehung oder Zufall? Man kann dieses Datum wenden
und wieder wenden, immer scheint etwas anderes auf. Im 9. November braut sich
zusammen, was nicht zusammengehört: Räterevolution und Republik, Terrorputsch,
Pogromfeuer, Vereinigungsglück.
Die
Schicksalswege überlagern und kreuzen sich, irgendwie hängt alles in diesem 20.
Jahrhundert zusammen, aber musste die Mauer ausgerechnet an einem 9. November
fallen? Der glücklichste Tag der jüngsten deutschen Geschichte strahlt hell in
die Gegenwart und droht zugleich die Erinnerung an das abgründigste Datum, die
Brandnächte von 1938, zu verdunkeln.
So
gnadenlos ist die Vergangenheit: Sie entgleitet uns. Und mehr noch: Allein
diesen beiden Ereignissen in einer angemessenen Form des Gedenkens an ein und
demselben Tag gerecht zu werden, ist eine Zumutung. Schon der Versuch muss
scheitern. Aber wir kommen um diesen 9. November nicht herum. Das könnte man
Schicksal nennen. Oder Verantwortung.
Für
kein November-Ereignis legt die Geschichte den Deutschen größere Verantwortung
und Haftung auf als für die Pogromnächte von 1938. Mit ihrer flächendeckenden
Gewaltorgie gegen jüdische Deutsche, der Zerstörung von Synagogen und
Geschäften, der Menschenjagd auf offener Straße machten die Nationalsozialisten
ihr Ziel offenkundig: Die Juden, ihre Kultur sollten aus Deutschland
verschwinden. Das Fanal zeigte jedem, der es sehen wollte, die klare Absicht,
den Juden im Reich die Lebensgrundlage zu entziehen. Man trachtete ihnen nach
dem Leben.
Aber
ihr Schicksal war noch nicht besiegelt, die systematische Ermordung in den
Vernichtungslagern nicht absehbar. Die Terrornacht von 1938 war selbst in der
NS-Machtelite umstritten. Göring beklagte die „sinnlose Zerstörung von
Sachwerten“, von ablehnenden Reaktionen in der Bevölkerung zu schweigen. Und
vermutlich wäre alles anders gekommen, wenn der Schweizer Maurice Bavaud am
selben 9. November 1938 seinen Plan vollendet hätte, Hitler beim Gedenkmarsch
zur Münchener Feldherrenhalle zu erschießen. Er kam nur nicht nahe genug an ihn
heran. Auch ein Schicksal.
Die
Dimension historischen Geschehens erschließt sich erst im Nachhinein, weil wir
Geschichte immer von ihrem Ende her denken. Doch jedes Ende bleibt eine
narrative Illusion. Die Geschichte, zumindest jedes ihrer epochalen Ereignisse,
holt uns immer wieder ein. Weil sich Lesarten im Licht der Gegenwart wenden,
wie die aktuelle Debatte um Theodor Eschenburg zeigt. Der einstige „Lehrer der
Demokratie“ und Gründungsvater der Politikwissenschaft der deutschen
Nachkriegszeit, ist als Namensgeber eines Preises nicht länger erwünscht, weil
er in der NS-Zeit an der „Arisierung“ eines Unternehmens beteiligt gewesen sein
soll und überdies SS-Mitglied war. Plötzlich ist nachrangig, dass Eschenburg
vor- und nachher ein tadelloser Demokrat war. Es bleibt der Mitläufer, der
Geduckte, von denen es zu viele gab.
Geschichte
kehrt stets zurück, zuweilen mit Wendungen, die uns aufs Neue beschämen. Die
Nachricht dieser Woche, dass die Leiche des berüchtigten Gestapo-Chefs Heinrich
Müller womöglich bei Kriegsende in einem Massengrab auf dem Jüdischen Friedhof
an der Großen Hamburger Straße bestattet wurde, gehört zu solchen entsetzlichen
Wendungen. Der Nazitäter, begraben mit seinen Opfern, das ist schwer zu
ertragen. Das Vergangene lässt uns nicht los, selbst die Toten kommen nicht zur
Ruhe.
„Zu
allem Handeln gehört Vergessen“, schreibt Nietzsche in seinem Traktat „Vom
Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“. Je weiter ein Ereignis in die
Vergangenheit entrückt, desto schwächer wirkt die Kraft der Erinnerung. So
leicht macht es uns der 9. November nicht. Zu beladen ist das Datum. Mit Glück
und Unglück. Es lehrt, dass wir unser Schicksal frei bestimmen müssen.
Verantwortung verjährt nicht.