Auch 25 Jahre nach dem Mauerfall hat Berlin anarchischen
Charme bewahrt. Das ist viel wert. Unsere Botschaft an die Welt: Wir sind das
Volk. Wir machen, was wir wollen - und jeder kann mitmachen.
Vor fünf Jahren, zum 20.
Jahrestag des Mauerfalls, fielen bunt bemalte Dominosteine. An diesem 9.
November will der Berliner Senat mit einer Lichterkette „ein Symbol der
Hoffnung auf eine Welt ohne Mauern“ setzen. Auf zwölf Kilometer Länge
sollen leuchtende Heliumballons den früheren innerstädtischen Grenzverlauf
markieren, der heute fast nicht mehr sichtbar ist.
Eine Menschenkette hätte
sicher noch größere symbolische Strahlkraft. Stellen wir uns vor:
Hunderttausende Hand in Hand auf dem einstigen Mauerstreifen, als Zeichen der
Versöhnung in Europa und der Welt – im Geist von Frieden und Freiheit.
Ein Zeichen, mit dem sich
das Datum auf seine geschichtlichen Dimensionen bezieht, den Beginn des Ersten
Weltkriegs vor 100 Jahren und des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren. Berlin wäre
dafür der richtige Ort.
Aber so nah kommen sich
das Volk und seine staatlichen Repräsentanten in Berlin ungern. Es wäre fast
ein Wunder, wenn sie ausgerechnet zum Jahrestag des Mauerfalls gemeinsam etwas
Großes auf die Beine stellen würden. Freisinnige Bürger und ihre gewählten
Vertreter wahren Distanz. Für staatlich gelenkte Masseninszenierungen gibt es –
aus historisch einleuchtenden Gründen – wenig Sympathie. Das Gedenken an die
deutsche Einheit ist geteilt, das Volk feiert den Tag des Mauerfalls, dem Staat
gehört der offiziöse 3. Oktober.
Denn der 9. November 1989
bleibt ein subversives Datum. Es symbolisiert den Triumph des Volkes über die
Staatsmacht. Die Selbstbefreiung der Ostdeutschen aus dem Staatsgefängnis DDR
erfüllte die Freiheitssehnsucht in einer Stadt, deren Bewohner jahrzehntelang
die Folgen von Diktatur und Krieg spürten und nur eingeschränkte demokratische
Rechte und Souveränität besaßen. Die Wahnsinns-Novembernacht vor 25 Jahren
befreite Berlin von dem Bann, der über die Stadt verhängt war, nachdem von hier
aus die Welt des 20. Jahrhunderts so gewaltsam, irrsinnig und profund verändert
wurde. Und die Deutschen, in glücklichen Revolutionen ungeübt, erlebten in
dieser Nacht, was sie mit Mut erreichen konnten: Selten ging solche Macht vom Volke aus, dass ein Staat dagegen machtlos war.
Seit 1989 wissen die
Deutschen, wie viel Macht
tatsächlich vom Volk ausgeht
Lange her, dieses deutsche
Herbstmärchen, fast nicht mehr wahr. Ein Mythos, verweht vom wind of change des
Einheitsalltags. Die Generation, die vom Fall der Mauer geprägt ist, vermag die
Teilung der Stadt mangels historischen Anschauungsmaterials kaum noch an ihre
Kinder zu vermitteln.
Auffällig ist außerdem,
mit wie wenig Pathos das epochale Ereignis im Bewusstsein der Deutschen belegt
ist. Selbst die Feiertagsrhetorik vom vereinten Deutschland im Herzen Europas
nimmt sich bescheiden aus gegen die Euphorie, mit der ausländische Gäste den
Mauerfall bestaunen. Berlin, die Stadt der Freiheit, das ist die Story, die
Jahr für Jahr Millionen Besucher in ihren Bann zieht – während die Deutschen
selbst ihre Einheitsfeste bescheidener feiern als jede Fußball-WM.
Wer hätte gewagt, von
dieser Zukunft zu träumen, vor 25 Jahren? Berlin ist frei, Deutschland vereint
mit Europa, die letzten Reste der Mauer stehen unter Denkmalschutz. Und wenn
ein ehemaliger KGB-Spitzel die Bagger rollen lässt, um den einstigen Schutzwall
an der East Side Gallery für die freie Zufahrt zu einem Luxuswohnturm zu
durchlöchern, reist David Hasselhoff als Mauerschützer aus Amerika an. „Wir
sind das Volk“, ruft dazu der Protestchor, fast wie ’89, nur mit dem Zusatz:
„Die Mauer bleibt stehen“. Verkehrte Welt, verrücktes Berlin.
Bei solchen
symbolgeladenen Konfrontationen scheint es, als habe die Wende nie ein Ende
gefunden. Als werde diese außergewöhnliche Geschichte, in der das Volk ein
Regime abschaffte, in einem unberechenbaren Spiel ständig neu variiert und sei
es – ganz post-postmodern – als unfreiwillig ironisches Retro-Zitat. Die
Revolte ist zum demokratischen Alltag geworden. So viel ist sicher: Berlin regt
auf – und zieht an. Wenige lässt die Stadt gleichgültig. In einer zunehmend
leidenschaftslosen Welt ist das ein nicht zu überschätzendes Kapital.
Rebelliert wird gegen alles
und jeden, Autoritäten werden aus Prinzip verachtet. Der Widerstand artikuliert
sich mal ernst, mal fröhlich, als Freiheitsbewegung oder Befreiungsfolklore.
Proteste, Demos, Runde Tische, Bürgerinitiativen, Petitionen,Volksbegehren, für das Tempelhofer Feld, gegen Bebauung, für
Flüchtlinge, gegen Fluglärm, für Milieuschutz, gegen Clubsterben, für Rekommunalisierung,
gegen Baumfällungen.
Der Volkswille agiert so
frei und heterogen, dass die Berufspolitik immer öfter überfordert und defensiv
reagiert. Bloß keinen Widerstand provozieren, scheint die Lektion von ’89
selbst für lupenreine Demokraten; jederzeit könnte die kritische Masse wieder
den Aufstand proben. Entscheidungen werden, wo es geht, vermieden oder vertagt.
Es herrschen die Mediatoren und Vermittlungsausschüsse. Richtig souverän wirkt
das nicht. Die Freiheit kommt an neue Grenzen.
So viel Zukunft wie heute
hatte Berlin lange nicht
Nach dem jahrzehntelangen
Winterschlaf, in den der Kalte Krieg die geteilte Stadt versetzt hat, hat sich
in dem kurzen zurückliegenden Vierteljahrhundert fast alles in Berlin
verändert: Alliierte Armeen zogen ab, Parlament und Regierung zogen ein. Neue
Quartiere wuchsen heran. Die Flieh- und Anziehungskräfte der Wanderungsdynamik
haben die Stadtgesellschaft umgewälzt. Berlin behauptet sich inzwischen
widerspruchslos als impulsives Zentrum einer neuen Republik, die liberaler,
weltoffener, toleranter geworden ist – und die sich zugleich unbelasteter der
Verantwortung vor der Geschichte und den Herausforderungen ihrer Zukunft
stellen kann. So viel Zukunft wie heute hatte Berlin lange nicht, glaubt man
den Machern und Vordenkern, die das Potenzial dieser Stadt an jedem neuen Tag
beschwören wie Schamanen die Geister der Ahnen.
Aber je tiefgreifender und
schneller sich der Wandel vollzieht, desto stärker werden auch die
Beharrungskräfte, desto mächtiger wirkt die Vergangenheit nach. Die Geschichte
lässt uns nicht los, sie steht der Stadt auf der Stirn, sie schlummert unter
unseren Füßen. Es gibt hier keinen ersten Spatenstich, mit jeder Schippe wird
belastetes Material zutage gefördert, wie sich gerade beim Neubau des Berliner
Stadtschlosses zeigt, mit dem unversehens das verdrängte Erbe des deutschen
Kolonialismus ins Bewusstsein rückt.
Die Erinnerungskultur
gedeiht, die Intensität des Vergangenen und das Interesse an der Geschichte der
Stadt nehmen zu – gerade auch bei jenen, die neu ankommen, um zu bleiben. Wer
hier Heimatgefühle entwickeln und Wurzeln schlagen will, auf den färbt
unweigerlich auch die angestammte Mentalität ab. Dazu gehören nicht nur die
berüchtigten Umgangsformen, die gewitzte Schlagfertigkeit, mit der man sich
hier von je her gleichermaßen gegen die Zumutungen der Großstadt wie gegen
zuwandernde Landeier zur Wehr gesetzt hat. Auch die Folgen der Isolation, das
jahrzehntelange Leben auf einer Gefangeneninsel abseits des großen
Weltgeschehens haben geprägt – in der reisebeschränkten „Hauptstadt der DDR“
ebenso wie im eingemauerten Westteil der Stadt, wo die Freiheit nur dank
großzügiger Alimentierung durch die Bundesrepublik und den Schutz der
Westalliierten erhalten wurde.
In diesem offenen Vollzug,
zwischen Kriegsbrachen, abbruchreifen Altbauvierteln und verlassenen Industrien
entdeckten die Nach-68er ihre Freiräume für die Erprobung alternativer
Lebenskonzepte. Soziale Stadt, Biokost und urbanes Gärtnern,
genossenschaftliches Wohnen und Arbeiten, Patchwork, Car Sharing,
Gleichstellung – beinahe alles, was heute in der Berliner Republik auf der
politischen Agenda steht, wurde in den Berliner Experimentierlabors der 70er
und 80er Jahre zur gesellschaftlichen Serienreife entwickelt.
Die neue Freiheit wird für
viele zur Freiheit der anderen
Doch die Avantgarde ist
ausgewechselt. In die Hinterhöfe und Fabriketagen sind Think Tanks, Kreative
und Firmengründer eingezogen. Es geht aufwärts in Wirtschaft, Forschung,
Wissenschaft. Lange hat die Politik um Investoren, Unternehmer und Gebildete
geworben, den Zustrom von Kapital und Arbeit herbeigesehnt. Nun, da die
Marktdynamik die Stadt erfasst, reagiert sie auffällig ratlos und verzögert auf
die sozialen Folgen.
Die neue Freiheit wird für
viele, die sich die Stadt immer weniger leisten können, zur Freiheit der
anderen. Was autonome Fassadenmaler längst wissen, erfasst auch die Mitte der
Gesellschaft: Die Grenze verläuft nicht zwischen Ost und West, sondern
„zwischen oben und unten“.
Das erhöht den diffusen
Unmut und berechtigt zum basisdemokratischen Aufbegehren. Und selbst für die
Haltung der Totalverweigerung und Frontalopposition, hinter der sich die selbst
erklärten Nachfahren des einstigen linken Aufbruchs verschanzen, kann man
Verständnis haben, ohne sie gutzuheißen. Nie hat jemand die Absicht, eine Mauer
zu errichten. Stets wird auf Notwehr plädiert gegen die widrige Wirklichkeit
oder die Natur des Menschen, die sich guten Absichten verstellt. Ähnlich
provozierend wirkt zuweilen die Arroganz der Macht, wo sich staatliche
Institutionen und ihre demokratisch legitimierten Vertreter als abgeschottete
Obrigkeit gerieren und, statt ihr Handeln transparent und bürgernah zu
gestalten, obendrein für selbst verschuldete Pleiten, Pech und Pannen die
Verantwortung verweigern.
Freiheit will gelernt
sein, besonders in einer Stadt, die Jahrzehnte der Fremdbestimmung unter
Diktaturen und Siegermächten hinter sich hat. Berlin hat Nachsicht und Geduld
verdient. Unter den europäischen Hauptstädten ist die deutsche noch ein
Bewährungskandidat. Der Freigänger mag eine günstige Sozialprognose haben. Aber
er bleibt ein Bursche mit dunkler Vergangenheit, mäßigen Manieren und
abgebrochener bürgerlicher Existenz in prekärer ökonomischer Lage. Und wie es
häufig ist mit schrägen Typen, so wirkt auch Berlin unwiderstehlich und übt
eine magische Anziehungskraft aus.
Der offene Horizont und
die Freiräume machen Berlin zum Sehnsuchtsort
Rund 40 000 neue
Einwohner zählt die Stadt jährlich. Kommen sie nur aus Rauflust, um mit uns zu
rebellieren? Natürlich nicht, oder wohl nicht nur. Es sind die Potenziale, der
offene Horizont, die Freiräume und Möglichkeiten, das Laissez-faire und das
Anything goes, die Berlin zum Sehnsuchtsort machen – und selbst jenen, die mit
wenig kommen, eine Zukunft versprechen.
Die Ruinen, Brachen und
leeren Fabrikgebäude gehen langsam aus, irgendwann wird auch Berlin eine
Metropole sein wie andere. Vielleicht kommen dann nicht weniger Hacker und
Datenschützer, Dissidenten, Freigeister und Glücksritter, sondern stattdessen
mehr Dax-Unternehmen, internationale Finanzjongleure oder russische Milliardäre
nach Berlin. Das muss ja nicht schaden.
Doch je mehr sich die
Verhältnisse an die anderer Weltstädte angleichen, desto größer wird für Berlin
die Herausforderung, seinen Markenkern zu erhalten, seine identitätsstiftende,
verbindende Erzählung in die Zukunft fortzuschreiben.
Mauern einzureißen, das
Klima der Vielfalt und Toleranz aktiv zu fördern, auch den unberechenbaren,
anarchischen Impulsen Raum zu geben, das ist eine Lebenshaltung, die
politischen Mut fordert. Berlin – die Stadt der Freiheit, dieses Image ist
allein mit purzelnden Dominosteinen, Lichterketten und Gedenkstätten nicht
dauerhaft zu behaupten.
Die Freiheit ist das
Erbgut der Stadt: Der Fall der Mauer war ihr jüngster Triumph in einer langen
Geschichte – vom Religionsedikt des Großen Kurfürsten über die Aufklärung, die
bürgerliche Revolution bis zum Sozialstaat. Die Freiheit überlebte im
Widerstand gegen die Diktaturen, sie hielt die geteilte Stadt zusammen, sie
bleibt die fordernde Kraft der Demokratie, sie treibt die Blüten der Sub- und
Gegenkulturen.
Wir haben die Freiheit. Es
ist unsere wertvollste Ressource, und wir sollten großzügig mit ihr sein. Ein
wenig mehr Gelassenheit, etwas mehr weltstädtische Klasse, auch Extravaganz und
Spleen könnte sie vertragen, die Berliner Freiheit, auch mit etwas mehr Stolz
sollte sie gelebt werden. Das kommt vielleicht noch. Die Frucht der Freiheit
muss reifen – und ist leicht verderblich, wenn wir sie nicht zu schätzen
wissen. Sie will erkämpft und verteidigt werden. Das kostet Kraft. Wer wüsste
das besser als die wiedervereinten Berliner. Anstrengend ist immer die Freiheit
der anderen.
Dieser Beitrag ist am
2.2.2014 unter dem Titel „Wir sind so frei“ im Tagesspiegel erschienen.