Der Frühling nährt die Hoffnung: Es wächst immer etwas nach.
So lange noch Leben in der Wurzel, die Saat nicht ganz verdorben ist, kann
Neues entstehen. Das sagen auch Paartherapeuten. Nur bei Zähnen (und bei
Männern auch bei den Haaren) sind natürliche Grenzen gesetzt. Zwei Wochen lang
hat Greta, unsere Sechsjährige, an ihrem ersten Wackelzahn laboriert. In der
Mathestunde hatte sie ihn endlich in der Hand. Abends saß sie stolz am Tisch und
hatte den Milchzahn auf einem Unterteller neben ihrem Gedeck platziert. Der
Zahn sollte wohl noch einmal beim Essen dabei sein, bevor er der Zahnfee
überantwortet werden sollte.
Viel lieber wollte Greta den kleinen Schneidezahn aber
behalten: „Ich könnte die Zähne sammeln und später eine Halskette daraus
machen.“ Die Idee hörte sich so ausgereift an, dass sie ihr vermutlich ihre
große Schwester eingeflüstert hat. Als Vater wünschte ich mir, meine
zehnjährige Tochter würde sich mehr für die eigenen Zähne engagieren. Bei ihr
sind es nämlich schon die zweiten, und wir bekommen beim Zahnarzt jedes Mal zu
hören, dass sie sie nicht richtig putzt.
Dabei hat Emma hat einen deutlich ausgeprägteren Hang zum
Bewahrenden als Greta. Eine echte Berlinerin. Jede Abrissbaustelle auf dem
Schulweg rührt ihr Herz. Zurzeit betrauert sie das IBA-Haus am Lützowplatz, das
gerade in Trümmer gelegt wurde, und den alten Güterschuppen an den
Yorckbrücken, der zuletzt ein Möbellager beherbergte und jetzt zum Schuttberg
zusammengekehrt wird. Dass dort bald etwas Neues entsteht, tröstet Emma nicht.
Berlin ist eine Stadt der Lücken und Prothesen. „Schau mal
da, die Gedächtniskirche. Die Berliner nennen sie Hohler Zahn“, erzähle ich
Emma. „Vielleicht fällt der auch bald aus, wenn das ein hohler Zahn ist“, sagt
Greta. Da fällt mir ein: Ich müsste längst mal wieder zur Prophylaxe. | Stephan
Wiehler
Dieser Beitrag ist in Zitty 10/2013 erschienen
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