Montag, 6. Mai 2013

Zahn der Zeit


Der Frühling nährt die Hoffnung: Es wächst immer etwas nach. So lange noch Leben in der Wurzel, die Saat nicht ganz verdorben ist, kann Neues entstehen. Das sagen auch Paartherapeuten. Nur bei Zähnen (und bei Männern auch bei den Haaren) sind natürliche Grenzen gesetzt. Zwei Wochen lang hat Greta, unsere Sechsjährige, an ihrem ersten Wackelzahn laboriert. In der Mathestunde hatte sie ihn endlich in der Hand. Abends saß sie stolz am Tisch und hatte den Milchzahn auf einem Unterteller neben ihrem Gedeck platziert. Der Zahn sollte wohl noch einmal beim Essen dabei sein, bevor er der Zahnfee überantwortet werden sollte.
Viel lieber wollte Greta den kleinen Schneidezahn aber behalten: „Ich könnte die Zähne sammeln und später eine Halskette daraus machen.“ Die Idee hörte sich so ausgereift an, dass sie ihr vermutlich ihre große Schwester eingeflüstert hat. Als Vater wünschte ich mir, meine zehnjährige Tochter würde sich mehr für die eigenen Zähne engagieren. Bei ihr sind es nämlich schon die zweiten, und wir bekommen beim Zahnarzt jedes Mal zu hören, dass sie sie nicht richtig putzt.
Dabei hat Emma hat einen deutlich ausgeprägteren Hang zum Bewahrenden als Greta. Eine echte Berlinerin. Jede Abrissbaustelle auf dem Schulweg rührt ihr Herz. Zurzeit betrauert sie das IBA-Haus am Lützowplatz, das gerade in Trümmer gelegt wurde, und den alten Güterschuppen an den Yorckbrücken, der zuletzt ein Möbellager beherbergte und jetzt zum Schuttberg zusammengekehrt wird. Dass dort bald etwas Neues entsteht, tröstet Emma nicht.
Berlin ist eine Stadt der Lücken und Prothesen. „Schau mal da, die Gedächtniskirche. Die Berliner nennen sie Hohler Zahn“, erzähle ich Emma. „Vielleicht fällt der auch bald aus, wenn das ein hohler Zahn ist“, sagt Greta. Da fällt mir ein: Ich müsste längst mal wieder zur Prophylaxe. | Stephan Wiehler


Dieser Beitrag ist in Zitty 10/2013 erschienen


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