Für ein aufklärendes Gespräch mit der Generation der Hitler-Deutschen ist es zu spät. Vom Tätervolk leben inzwischen fast nur noch Verführte
Der ZDF-Dreiteiler „Unsere Mütter, unsere Väter“ ist versendet, zurückgeblieben ist die Illusion, das TV-Drama könnte endlich ein Gespräch anregen zwischen den Generationen, zwischen jenen, die Zeitzeugen des Nationalsozialismus waren, und den Nachgeborenen. Doch von wenigen Ausnahmen abgesehen, ist es dafür zu spät. Wer das Kriegsende 1945 als 18-Jähriger und mit halbwegs entwickeltem Erwachsenen-Bewusstsein erlebt hat, ist heute 86 Jahre alt oder bereits gestorben. Es ist die damalige Flakhelfer-Generation, es sind die Jungmädel und die Kindersoldaten – allenfalls die Verführten. Die Täter und ihre Komplizen, die feigen Mitwisser und verängstigten Mitläufer, sie sind nicht mehr. Gesprochen über das, was in der Nazizeit geschehen ist, über die eigene Verstrickung und Mitverantwortung, hat von ihnen in den vergangenen fast 70 Jahren kaum einer, geschweige denn über persönliche Schuld. Vielleicht bleibt eine Handvoll, die jetzt zum Reden bereit ist.
Mit den Opfern und ihren Nachkommen war das nicht viel
anders, das Erlebte blieb tabu, das Schweigen der Überlebenden belastet noch
nachfolgende Generationen. Psychiater sprechen vom Post-Holocaust-Trauma. Es
ist weit verbreitet und wissenschaftlich eingehend untersucht. Vom Post-Nazi-Trauma unter den Nachkommen der Täter ist dagegen wenig bekannt.
Meine Großväter, beide Jahrgang 1908, sind länger als 30
Jahre tot. Beide waren Raucher. Mein Vater, geboren 1940, Flüchtlingskind aus
Westpreußen, konnte noch nichts wissen und hat später nicht gefragt. Über den
Krieg sprachen meine Großväter, Hans und Walter, trotzdem. Miteinander. Ich
erinnere mich an meine Kindergeburtstage und die dichten Rauchschwaden, in
denen die beiden an der Kaffeetafel verschwanden, wenn die alten Männer ihre Kriegserlebnisse
austauschten. Walter ("Juno" ohne Filter), der im Marinehafen im französischen
Brest stationiert war, sprach von Omelett und „Weng Rousch“ (Französisch für
Rotwein), Hans (Brasil-Zigarren), der zunächst bei einer Versorgungseinheit der
Wehrmacht und spät an die Ostfront und in Kriegsgefangenschaft geriet, erzählte
von eimerweise Machorka, die es beim Russen zu rauchen gegeben habe. Harmlosigkeiten,
Landser-Romantik. Das Verfänglichste, das Walter, der Vater meiner Mutter,
gelernter Anstreicher, später Postbeamter und Quartalssäufer, immer mal wieder
erzählte, war, dass er an seinem Geburtstag, dem 19. April, mit seinen Freunden regelmäßig reingefeiert
hätte – in den „Führergeburtstag“. In welchen Kreisen er vermutlich gefeiert
hatte, erfuhr ich erst viel später. Großvater Hans, passionierter Jäger, der nach
den mageren Kriegsjahren schnell an Umfang zugelegt hatte und schon dadurch
etwas unnahbar geworden war, reagierte nur einmal auffallend dünnhäutig: als sein
Enkel Cowboy spielte und eine Plastikpistole auf ihn richtete. „Niemals auf
Menschen zielen“, herrschte er mich an. „Auch nicht mit Spielzeugwaffe.“
Über die letzten vier Jahrzehnte wurden dem deutschen
Fernsehpublikum viele Anstöße zu Gesprächen über die Hitler-Diktatur und ihre
Folgen gegeben, angefangen mit der US-amerikanischen Serie „Holocaust“, die
1979 das Schicksal der jüdischen Familie Weiß in die Wohnzimmer brachte und die
Frage „Was habt ihr gewusst?“ gesellschaftsfähig machte. Je länger Krieg und Verbrechen zurücklagen, desto größer durfte
der Kreis der Opfer werden: Ob Flucht und Vertreibung („Die Gustloff“, 2008; „Die
Flucht“ 2007), Vergewaltigungen durch Rotarmisten („Anonyma – eine Frau in Berlin“,
2008) oder die Bombennächte („Dresden“, 2006) – die Moral all dieser
Erzählungen lautet: Auch die Deutschen haben gelitten. „Unsere Mütter, unsere
Väter“ hinterlässt schon mit dem kollektivistischen Titel den verstörenden
Eindruck, dass im System des totalitären Terrors niemand eine Wahl hatte, dass Widerstand
sinnlos war. Inzwischen ist eine solche Darstellung – so falsch sie sein mag –
auch deshalb konsensfähig geworden, weil kaum noch ein Zeitzeuge lebt, der mit
der Überzeugungskraft eigener Erfahrung widersprechen könnte.
Denn von denjenigen, die noch leben, kann ernsthaft keine
Antwort auf die Frage erwartet werden, warum sie es geschehen ließen. Sie waren
Kleinkinder, als Hitler die Macht übernahm. Für die Pimpfe, die Jungmädels, für
die Volkssturm-Jugend, das letzte Aufgebot des Krieges, gilt die
Unschuldsvermutung.
So bleibt am Ende doch wieder allenthalben das Schweigen.
Meine Großväter, Jahrgang 1908, hatten dagegen die Wahl. Und
beide entschieden sich für Hitler, freiwillig. Sie reihten sich ein in die Kolonnen
hinter der Hakenkreuzfahne, wie Millionen andere, und sie marschierten mit,
lange genug, um mitschuldig zu werden. Das war zu ihren Lebzeiten nie ein Thema,
schon gar nicht beim Kindergeburtstag.
Bis heute gibt es nur wenige, aber dafür deutliche Hinweise
auf die Nazi-Vergangenheit meiner Großväter. Als meine Mutter 2008 starb und
der Pfarrer zu uns nach Hause kam, um seine Predigt zu ihrer Beerdigung
vorzubereiten, erzählten ihre Schwestern beiläufig, dass ihr Vater, mein
Großvater Walter, bereits 1937 – zwei Jahre vor Kriegsbeginn – zur Wehrmacht eingezogen
und längere Zeit weg gewesen sei. Der Pfarrer erklärte, dass er das häufiger
höre. Im Landkreis Ammerland (nordwestlich von Bremen) hätten sich viele Männer
freiwillig zur „Legion Condor“ gemeldet, mit der Hitler die Franco-Putschisten
im spanischen Bürgerkrieg unterstützte.
Von der braunen Gesinnung meines Großvaters Hans erfuhr ich 2010
bei einem Familientreffen in Kanada. Ein Großonkel, ein frommer Mennoniten-Prediger
mit weißem Bart, damals 92 Jahre alt, erzählte mir, dass Hans, sein „Lieblingscousin“
und dessen Vater, schon lange vor 1933 „begeistert vom Hitler gewesen und ständig
in Braunhemden herumgelaufen“ seien. Später habe sich das allerdings geändert,
sagte mein Onkel. Wann das war, wusste er nicht mehr zu sagen. Ich habe
noch nicht weiter geforscht. Vielleicht will ich das alles so genau auch gar
nicht wissen.
Dieser Beitrag im Tagesspiegel
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