Samstag, 19. Juli 2014

Der Widerstand gegen Hitler wird langsam vergessen

Die Erinnerung an den 20. Juli 1944 verblasst

70 Jahre liegt das gescheiterte Attentat auf Adolf Hitler zurück. Im Gedächtnis der Nation verblasst die Erinnerung an den versuchten Staatsstreich. Die Namen der Männer und Frauen, die im Widerstand gegen den Nationalsozialismus ihr Leben einsetzen, sind den meisten Deutschen heute unbekannt. Nach einer Umfrage des Instituts für Demographie Allensbach wissen nur noch 45 Prozent der Deutschen zu sagen, was am 20. Juli 1944 geschah – vor 30 Jahren waren es im Westen Deutschlands noch 61 Prozent. Unter den 16- bis 29-Jährigen bringen heute nur noch 26 Prozent der Befragten das Datum mit dem Anschlag auf Hitler in Verbindung.
Ausstellung zum 20. Juli 1944 in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin.  Foto: GDW


Das Vergessen gehört zur Geschichte wie es zum individuellen Leben gehört. Auch im kollektiven Gedächtnis kann nicht alles aufgehoben und bewahrt werden. Sieben Jahrzehnte und mehr als drei Generationen nach Kriegsende ist die Zahl der Zeitzeugen, die vom Widerstand gegen Hitler aus eigener Erfahrung erzählen können, inzwischen sehr klein. Hinzu kommt das Ungleichgewicht der Kräfte: Die Monstrosität der Naziverbrechen überschattet den Mut der Wenigen, die Widerstand leisteten. Vernichtungskrieg und Völkermord, das Leid der Millionen unmittelbarer Opfer der Verfolgung, lässt vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit für die kleine Minderheit der Aufrechten, zumal ihrem Handeln das Stigma der Vergeblichkeit anhaftet. Und auch das Stigma des Verrats wirkt nach: Deutlich tiefer als das Vermächtnis der Widerständler hat sich im öffentlichen Bewusstsein das Niederbrüllen der angeklagten Verschwörer durch den Volksgerichtshof-Präsidenten Roland Freisler eingeprägt, die Aufnahmen der Nazipropaganda laufen in Endlosschleife durch die Fernsehdokus.

Im Osten Deutschlands ist die Erinnerung an den Putschversuch wacher

Bemerkenswert am Ergebnis der Allensbach-Umfrage ist, dass im Osten Deutschlands 53 Prozent der Befragten das Datum des 20. Juli 1944 mit dem Attentat auf Hitler zu verbinden wissen – deutlich mehr Menschen als im Westen der Republik, wo es nur 43 Prozent sind. Dies überrascht umso mehr, als der Putschversuch der Wehrmachtsoffiziere in der offiziellen DDR-Gedenkkultur allenfalls eine marginale Rolle gespielt hat, das Hauptaugenmerk war dort vor allem auf die kommunistischen Widerstandskämpfer gerichtet. Es wäre interessant zu erfahren, ob dieser Wissensvorsprung auch der jüngeren Ostdeutschen eher eine Folge des staatstragenden Antifaschismus in der DDR ist oder es vielmehr die individuellen Erfahrungen der Eltern in der zweiten, der realsozialistischen Diktatur sind, die das grundsätzliche Interesse an der Tradition des Widerstands bis heute geschärft haben.
Gedenkbriefmarke zum 50. Jahrestag
des 20. Juli 1944 aus dem Jahr 1994.

Auch die Verdrängung hat zum Vergessen beigetragen. Während die DDR das Erbe linker Widerstandsgruppen wie der „Roten Kapelle“ in das regimekonforme Geschichtsbild des kommunistischen Antifaschismus einpasste und dabei ausblendete, dass auch diese Organisation aus der Mitte der Gesellschaft gewachsen war, so verengte die Bundesrepublik die Perspektive lange auf die militärischen Anführer des Putschversuchs vom 20. Juli 1944. Das weit verzweigte zivile Netzwerk der Mitverschwörer aus Politik und Verwaltung, getragen von linksliberalen wie konservativen Kräften, von Protestanten und Katholiken geriet in den Hintergrund. Das mutige Handeln der Offiziere um Claus Schenk Graf von Stauffenberg diente als Vorbild für den neuen Staatsbürger in Uniform und begründete die Tradition einer freiheitlich-demokratischen Bundeswehr, in deren Schatten zugleich die Verbrechen der Wehrmacht eine ganze Weile bequem in Vergessenheit geraten konnten.
Posthum wurden die Widerständler vom 20. Juli gewissermaßen zu Teilhabern gemacht an der Verdrängung der Schuld, der sich die Überlebenden nicht stellen wollten. Auch das wird leicht vergessen.


Die staatstragende Heroisierung, aber auch die Ablehnung eines verklärten soldatisch-aufrechten Widerstands, macht es für die nachkommenden Generationen schwer, hinter den entrückten Idolen und Zerrbildern die Menschen mit ihren Widersprüchen, Gewissensnöten und existenziellen Zweifeln zu erkennen. Bald wird kein Zeitzeuge mehr da sein, der Schülern von der Erfahrung der Nazi-Diktatur und dem Widerstand unmittelbar erzählen und auch emotional vermitteln kann, wie sie wirklich waren, die Mütter und Väter, die gegen Hitler aufbegehrten. Dann bleiben nur noch die Geschichtsbücher, die übermächtigen Bilder und schrillen Töne aus dem Nazireich, ein paar Fernsehinterviews mit Witwen und Waisen. Und das Vergessen.

Mittwoch, 4. Juni 2014

Die große Berliner Freiheit

Auch 25 Jahre nach dem Mauerfall hat Berlin anarchischen Charme bewahrt. Das ist viel wert. Unsere Botschaft an die Welt: Wir sind das Volk. Wir machen, was wir wollen - und jeder kann mitmachen.


Vor fünf Jahren, zum 20. Jahrestag des Mauerfalls, fielen bunt bemalte Dominosteine. An diesem 9. November will der Berliner Senat mit einer Lichterkette „ein Symbol der Hoffnung auf eine Welt ohne Mauern“ setzen. Auf zwölf Kilometer Länge sollen leuchtende Heliumballons den früheren innerstädtischen Grenzverlauf markieren, der heute fast nicht mehr sichtbar ist.

Eine Menschenkette hätte sicher noch größere symbolische Strahlkraft. Stellen wir uns vor: Hunderttausende Hand in Hand auf dem einstigen Mauerstreifen, als Zeichen der Versöhnung in Europa und der Welt – im Geist von Frieden und Freiheit.

Ein Zeichen, mit dem sich das Datum auf seine geschichtlichen Dimensionen bezieht, den Beginn des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren und des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren. Berlin wäre dafür der richtige Ort.

Aber so nah kommen sich das Volk und seine staatlichen Repräsentanten in Berlin ungern. Es wäre fast ein Wunder, wenn sie ausgerechnet zum Jahrestag des Mauerfalls gemeinsam etwas Großes auf die Beine stellen würden. Freisinnige Bürger und ihre gewählten Vertreter wahren Distanz. Für staatlich gelenkte Masseninszenierungen gibt es – aus historisch einleuchtenden Gründen – wenig Sympathie. Das Gedenken an die deutsche Einheit ist geteilt, das Volk feiert den Tag des Mauerfalls, dem Staat gehört der offiziöse 3. Oktober.

Denn der 9. November 1989 bleibt ein subversives Datum. Es symbolisiert den Triumph des Volkes über die Staatsmacht. Die Selbstbefreiung der Ostdeutschen aus dem Staatsgefängnis DDR erfüllte die Freiheitssehnsucht in einer Stadt, deren Bewohner jahrzehntelang die Folgen von Diktatur und Krieg spürten und nur eingeschränkte demokratische Rechte und Souveränität besaßen. Die Wahnsinns-Novembernacht vor 25 Jahren befreite Berlin von dem Bann, der über die Stadt verhängt war, nachdem von hier aus die Welt des 20. Jahrhunderts so gewaltsam, irrsinnig und profund verändert wurde. Und die Deutschen, in glücklichen Revolutionen ungeübt, erlebten in dieser Nacht, was sie mit Mut erreichen konnten: Selten ging solche Macht vom Volke aus, dass ein Staat dagegen machtlos war.

Seit 1989 wissen die Deutschen, wie viel Macht
tatsächlich vom Volk ausgeht


Lange her, dieses deutsche Herbstmärchen, fast nicht mehr wahr. Ein Mythos, verweht vom wind of change des Einheitsalltags. Die Generation, die vom Fall der Mauer geprägt ist, vermag die Teilung der Stadt mangels historischen Anschauungsmaterials kaum noch an ihre Kinder zu vermitteln.

Auffällig ist außerdem, mit wie wenig Pathos das epochale Ereignis im Bewusstsein der Deutschen belegt ist. Selbst die Feiertagsrhetorik vom vereinten Deutschland im Herzen Europas nimmt sich bescheiden aus gegen die Euphorie, mit der ausländische Gäste den Mauerfall bestaunen. Berlin, die Stadt der Freiheit, das ist die Story, die Jahr für Jahr Millionen Besucher in ihren Bann zieht – während die Deutschen selbst ihre Einheitsfeste bescheidener feiern als jede Fußball-WM.

Wer hätte gewagt, von dieser Zukunft zu träumen, vor 25 Jahren? Berlin ist frei, Deutschland vereint mit Europa, die letzten Reste der Mauer stehen unter Denkmalschutz. Und wenn ein ehemaliger KGB-Spitzel die Bagger rollen lässt, um den einstigen Schutzwall an der East Side Gallery für die freie Zufahrt zu einem Luxuswohnturm zu durchlöchern, reist David Hasselhoff als Mauerschützer aus Amerika an. „Wir sind das Volk“, ruft dazu der Protestchor, fast wie ’89, nur mit dem Zusatz: „Die Mauer bleibt stehen“. Verkehrte Welt, verrücktes Berlin.

Bei solchen symbolgeladenen Konfrontationen scheint es, als habe die Wende nie ein Ende gefunden. Als werde diese außergewöhnliche Geschichte, in der das Volk ein Regime abschaffte, in einem unberechenbaren Spiel ständig neu variiert und sei es – ganz post-postmodern – als unfreiwillig ironisches Retro-Zitat. Die Revolte ist zum demokratischen Alltag geworden. So viel ist sicher: Berlin regt auf – und zieht an. Wenige lässt die Stadt gleichgültig. In einer zunehmend leidenschaftslosen Welt ist das ein nicht zu überschätzendes Kapital.

Rebelliert wird gegen alles und jeden, Autoritäten werden aus Prinzip verachtet. Der Widerstand artikuliert sich mal ernst, mal fröhlich, als Freiheitsbewegung oder Befreiungsfolklore. Proteste, Demos, Runde Tische, Bürgerinitiativen, Petitionen,Volksbegehren, für das Tempelhofer Feld, gegen Bebauung, für Flüchtlinge, gegen Fluglärm, für Milieuschutz, gegen Clubsterben, für Rekommunalisierung, gegen Baumfällungen.

Der Volkswille agiert so frei und heterogen, dass die Berufspolitik immer öfter überfordert und defensiv reagiert. Bloß keinen Widerstand provozieren, scheint die Lektion von ’89 selbst für lupenreine Demokraten; jederzeit könnte die kritische Masse wieder den Aufstand proben. Entscheidungen werden, wo es geht, vermieden oder vertagt. Es herrschen die Mediatoren und Vermittlungsausschüsse. Richtig souverän wirkt das nicht. Die Freiheit kommt an neue Grenzen.

So viel Zukunft wie heute hatte Berlin lange nicht

Nach dem jahrzehntelangen Winterschlaf, in den der Kalte Krieg die geteilte Stadt versetzt hat, hat sich in dem kurzen zurückliegenden Vierteljahrhundert fast alles in Berlin verändert: Alliierte Armeen zogen ab, Parlament und Regierung zogen ein. Neue Quartiere wuchsen heran. Die Flieh- und Anziehungskräfte der Wanderungsdynamik haben die Stadtgesellschaft umgewälzt. Berlin behauptet sich inzwischen widerspruchslos als impulsives Zentrum einer neuen Republik, die liberaler, weltoffener, toleranter geworden ist – und die sich zugleich unbelasteter der Verantwortung vor der Geschichte und den Herausforderungen ihrer Zukunft stellen kann. So viel Zukunft wie heute hatte Berlin lange nicht, glaubt man den Machern und Vordenkern, die das Potenzial dieser Stadt an jedem neuen Tag beschwören wie Schamanen die Geister der Ahnen.

Aber je tiefgreifender und schneller sich der Wandel vollzieht, desto stärker werden auch die Beharrungskräfte, desto mächtiger wirkt die Vergangenheit nach. Die Geschichte lässt uns nicht los, sie steht der Stadt auf der Stirn, sie schlummert unter unseren Füßen. Es gibt hier keinen ersten Spatenstich, mit jeder Schippe wird belastetes Material zutage gefördert, wie sich gerade beim Neubau des Berliner Stadtschlosses zeigt, mit dem unversehens das verdrängte Erbe des deutschen Kolonialismus ins Bewusstsein rückt.

Die Erinnerungskultur gedeiht, die Intensität des Vergangenen und das Interesse an der Geschichte der Stadt nehmen zu – gerade auch bei jenen, die neu ankommen, um zu bleiben. Wer hier Heimatgefühle entwickeln und Wurzeln schlagen will, auf den färbt unweigerlich auch die angestammte Mentalität ab. Dazu gehören nicht nur die berüchtigten Umgangsformen, die gewitzte Schlagfertigkeit, mit der man sich hier von je her gleichermaßen gegen die Zumutungen der Großstadt wie gegen zuwandernde Landeier zur Wehr gesetzt hat. Auch die Folgen der Isolation, das jahrzehntelange Leben auf einer Gefangeneninsel abseits des großen Weltgeschehens haben geprägt – in der reisebeschränkten „Hauptstadt der DDR“ ebenso wie im eingemauerten Westteil der Stadt, wo die Freiheit nur dank großzügiger Alimentierung durch die Bundesrepublik und den Schutz der Westalliierten erhalten wurde.

In diesem offenen Vollzug, zwischen Kriegsbrachen, abbruchreifen Altbauvierteln und verlassenen Industrien entdeckten die Nach-68er ihre Freiräume für die Erprobung alternativer Lebenskonzepte. Soziale Stadt, Biokost und urbanes Gärtnern, genossenschaftliches Wohnen und Arbeiten, Patchwork, Car Sharing, Gleichstellung – beinahe alles, was heute in der Berliner Republik auf der politischen Agenda steht, wurde in den Berliner Experimentierlabors der 70er und 80er Jahre zur gesellschaftlichen Serienreife entwickelt.

Die neue Freiheit wird für viele zur Freiheit der anderen

Doch die Avantgarde ist ausgewechselt. In die Hinterhöfe und Fabriketagen sind Think Tanks, Kreative und Firmengründer eingezogen. Es geht aufwärts in Wirtschaft, Forschung, Wissenschaft. Lange hat die Politik um Investoren, Unternehmer und Gebildete geworben, den Zustrom von Kapital und Arbeit herbeigesehnt. Nun, da die Marktdynamik die Stadt erfasst, reagiert sie auffällig ratlos und verzögert auf die sozialen Folgen.

Die neue Freiheit wird für viele, die sich die Stadt immer weniger leisten können, zur Freiheit der anderen. Was autonome Fassadenmaler längst wissen, erfasst auch die Mitte der Gesellschaft: Die Grenze verläuft nicht zwischen Ost und West, sondern „zwischen oben und unten“.

Das erhöht den diffusen Unmut und berechtigt zum basisdemokratischen Aufbegehren. Und selbst für die Haltung der Totalverweigerung und Frontalopposition, hinter der sich die selbst erklärten Nachfahren des einstigen linken Aufbruchs verschanzen, kann man Verständnis haben, ohne sie gutzuheißen. Nie hat jemand die Absicht, eine Mauer zu errichten. Stets wird auf Notwehr plädiert gegen die widrige Wirklichkeit oder die Natur des Menschen, die sich guten Absichten verstellt. Ähnlich provozierend wirkt zuweilen die Arroganz der Macht, wo sich staatliche Institutionen und ihre demokratisch legitimierten Vertreter als abgeschottete Obrigkeit gerieren und, statt ihr Handeln transparent und bürgernah zu gestalten, obendrein für selbst verschuldete Pleiten, Pech und Pannen die Verantwortung verweigern.

Freiheit will gelernt sein, besonders in einer Stadt, die Jahrzehnte der Fremdbestimmung unter Diktaturen und Siegermächten hinter sich hat. Berlin hat Nachsicht und Geduld verdient. Unter den europäischen Hauptstädten ist die deutsche noch ein Bewährungskandidat. Der Freigänger mag eine günstige Sozialprognose haben. Aber er bleibt ein Bursche mit dunkler Vergangenheit, mäßigen Manieren und abgebrochener bürgerlicher Existenz in prekärer ökonomischer Lage. Und wie es häufig ist mit schrägen Typen, so wirkt auch Berlin unwiderstehlich und übt eine magische Anziehungskraft aus.

Der offene Horizont und die Freiräume machen Berlin zum Sehnsuchtsort
Rund 40 000 neue Einwohner zählt die Stadt jährlich. Kommen sie nur aus Rauflust, um mit uns zu rebellieren? Natürlich nicht, oder wohl nicht nur. Es sind die Potenziale, der offene Horizont, die Freiräume und Möglichkeiten, das Laissez-faire und das Anything goes, die Berlin zum Sehnsuchtsort machen – und selbst jenen, die mit wenig kommen, eine Zukunft versprechen.

Die Ruinen, Brachen und leeren Fabrikgebäude gehen langsam aus, irgendwann wird auch Berlin eine Metropole sein wie andere. Vielleicht kommen dann nicht weniger Hacker und Datenschützer, Dissidenten, Freigeister und Glücksritter, sondern stattdessen mehr Dax-Unternehmen, internationale Finanzjongleure oder russische Milliardäre nach Berlin. Das muss ja nicht schaden.

Doch je mehr sich die Verhältnisse an die anderer Weltstädte angleichen, desto größer wird für Berlin die Herausforderung, seinen Markenkern zu erhalten, seine identitätsstiftende, verbindende Erzählung in die Zukunft fortzuschreiben.

Mauern einzureißen, das Klima der Vielfalt und Toleranz aktiv zu fördern, auch den unberechenbaren, anarchischen Impulsen Raum zu geben, das ist eine Lebenshaltung, die politischen Mut fordert. Berlin – die Stadt der Freiheit, dieses Image ist allein mit purzelnden Dominosteinen, Lichterketten und Gedenkstätten nicht dauerhaft zu behaupten.

Die Freiheit ist das Erbgut der Stadt: Der Fall der Mauer war ihr jüngster Triumph in einer langen Geschichte – vom Religionsedikt des Großen Kurfürsten über die Aufklärung, die bürgerliche Revolution bis zum Sozialstaat. Die Freiheit überlebte im Widerstand gegen die Diktaturen, sie hielt die geteilte Stadt zusammen, sie bleibt die fordernde Kraft der Demokratie, sie treibt die Blüten der Sub- und Gegenkulturen.

Wir haben die Freiheit. Es ist unsere wertvollste Ressource, und wir sollten großzügig mit ihr sein. Ein wenig mehr Gelassenheit, etwas mehr weltstädtische Klasse, auch Extravaganz und Spleen könnte sie vertragen, die Berliner Freiheit, auch mit etwas mehr Stolz sollte sie gelebt werden. Das kommt vielleicht noch. Die Frucht der Freiheit muss reifen – und ist leicht verderblich, wenn wir sie nicht zu schätzen wissen. Sie will erkämpft und verteidigt werden. Das kostet Kraft. Wer wüsste das besser als die wiedervereinten Berliner. Anstrengend ist immer die Freiheit der anderen.

Dieser Beitrag ist am 2.2.2014 unter dem Titel „Wir sind so frei“ im Tagesspiegel erschienen.


Mittwoch, 18. Dezember 2013

Ein afrikanischer Regent für Berlins Schlossplatz

Nelson Mandela wäre ein ehrwürdiger Namensgeber für die Freifläche vor dem künftigen Humboldtforum. Aber nicht unbedingt der richtige: Mutiger wäre ein Bekenntnis zur deutschen kolonialen Vergangenheit - und ihren Opfern.

Nelson-Mandela-Platz 1: Der Vorschlag der Stiftung Zukunft Berlin, die Freifläche vor dem künftigen Schloss nach dem verstorbenen Friedensnobelpreisträger zu benennen, ist überdenkenswert. Die Adresse könnte Strahlkraft erzeugen für das Ansinnen, im neuen Humboldtforum einen Beitrag zur Versöhnung zu leisten zwischen den ehemaligen Kolonialherren und den von ihnen ausgebeuteten Völkern, und das möglichst auf Augenhöhe. Schließlich soll das neue Schloss in Berlins alter Mitte in wenigen Jahren zu einem „Ort der Weltkulturen“ werden.

Mit den außereuropäischen Sammlungen, die aus fernen Weltregionen nach Berlin getragen wurden, soll im barocken Imitat des ehemals kaiserlichen Dienstsitzes zugleich ein Dialog über Vielfalt und Werte der Weltkulturen in Gang kommen.
„Neugier anstelle von Vorurteil und Anschaulichkeit statt Ideologie sind hier wesentliche Antriebe. Dazu gehört, sich zur eigenen Geschichte zu bekennen“, lautet die staatstragende Vision, die der Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Hermann Parzinger, für das Humboldtforum hat.

Statt Nelson Mandela sollte Samuel Maherero geehrt werden

Ein Bekenntnis zur eigenen Geschichte ließe sich allerdings eher mit einem anderen Namen vor der Tür ablegen. Mandelas Vermächtnis ist aller Ehren wert, aber mit der kolonialen Erblast der Deutschen verbindet ihn nichts. Mutiger wäre es, für die Benennung des Schlossvorplatzes einen Namenspatron zu wählen, der unmittelbaren Bezug zur deutschen Kolonialvergangenheit herstellt. Im heutigen Namibia, dem ehemaligen Deutsch-Südwestafrika, steht ein Freiheitskämpfer bereit, der ein würdiges Andenken an diesem zentralen Ort verdient hätte. Sein Name ist Samuel Maherero.

Der Stammesführer der Herero, der 1904 den bewaffneten Aufstand gegen die rassistische Raub- und Gewaltherrschaft der deutschen Schutzmacht anführte, wird in seiner Heimat als Nationalheld verehrt, in Deutschland ist er nahezu vergessen. Die Erinnerung an das dunkle Kapitel deutscher Vergangenheit auf dem schwarzen Kontinent ist aus dem kollektiven Gedächtnis verdrängt. Denn die Geschichte des ehemaligen Priesterschülers und Stammesregenten gemahnt an das katastrophale Scheitern der kaiserlichen Kolonialträume vom „Platz an der Sonne“.


Samuel Maherero. Foto: Bundesarchiv

Es ist auch eine Geschichte verunglückter Annäherung, enttäuschter Freundschaft und missbrauchten Vertrauens. Samuel Maherero, der anfangs um Einvernehmen mit der deutschen Kolonialverwaltung bemüht war, sah seine politischen Hoffnungen auf ein gedeihliches Miteinander bald zerschlagen. Immer mehr einheimische Bauern verloren ihr Land an deutsche Siedler, die sie in die Lohnarbeit zwangen. Misshandlungen, Vergewaltigung und auch Morde durch die Farmer blieben in der Regel ungesühnt. Die fortschreitende Armutsabhängigkeit der Bevölkerung und die rassistischen Demütigungen des Alltags bereiteten der Rebellion den Boden.

Der Aufstand wurde niedergeschlagen. Die herausgeforderte Schutzmacht reagierte mit einem Vernichtungsbefehl. „Innerhalb der Deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen“, ordnete Generalleutnant Lothar von Trotha an. Die deutsche Heeresleitung rief einen „Rassenkampf“ aus. Flüchtlinge wurden von der Wasserversorgung abgeschnitten und verdursteten, tausende starben in Konzentrationslagern. Der vierjährige Vernichtungsfeldzug kostete 80.000 bis 100.000 Menschen das Leben. Nur 20 Prozent der am Aufstand beteiligten Stämme der Herero und Nama überlebten. Samuel Maherero gelang die Flucht nach Britisch-Betschuanaland, dem heutigen Botswana, wo er 1923 starb.

Deutschland hat den Völkermord an den Herero bis heute nicht anerkannt

Die Anerkennung als Völkermord, die das Massaker durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen erhielt, verweigert die Bundesregierung den Opfern und ihren Nachfahren bis heute – mit der Begründung, die 1948 beschlossene UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes könne nicht auf Ereignisse vor diesem Datum angewendet werden. Zur historischen und moralischen Verantwortung habe man sich aber wiederholt bekannt, auch gegenüber Namibia und den Nachfahren der Opfer, erklärte die Bundesregierung erst im August 2012.

Die Benennung des Schlossvorplatzes nach Samuel Maherero wäre ein Symbol dafür, dass sich Deutschland dieser Verantwortung auch im eigenen Land stellt, an sichtbarem und prominentem Ort. Der ehemalige Stammesfürst der Herero würde den versöhnlichen Anspruch des Humboldtforums adeln, an jenem Platz, von dem aus die afrikanischen Untertanen einst regiert wurden.

In Berlin war Samuel Maherero nie, anders als sein Sohn, dem der Vater zu besseren Zeiten den Königsnamen Friedrich gegeben hatte. Er durfte 1896 in die ferne Reichshauptstadt reisen. Bei einer Kolonialausstellung im Treptower Park diente Friedrich Maherero als Statist in einem „Negerdorf“.

Dieser Beitrag ist erschienen auf Tagesspiegel.de 16.12.2013


Montag, 4. November 2013

Schicksal und Geschichte. Der 9. November und die Deutschen


Neunter November, Schicksalstag der Deutschen. Was soll das sein, das Schicksal einer Nation? Fügung, Geschick, Vorsehung oder Zufall? Man kann dieses Datum wenden und wieder wenden, immer scheint etwas anderes auf. Im 9. November braut sich zusammen, was nicht zusammengehört: Räterevolution und Republik, Terrorputsch, Pogromfeuer, Vereinigungsglück.
Die Schicksalswege überlagern und kreuzen sich, irgendwie hängt alles in diesem 20. Jahrhundert zusammen, aber musste die Mauer ausgerechnet an einem 9. November fallen? Der glücklichste Tag der jüngsten deutschen Geschichte strahlt hell in die Gegenwart und droht zugleich die Erinnerung an das abgründigste Datum, die Brandnächte von 1938, zu verdunkeln.
So gnadenlos ist die Vergangenheit: Sie entgleitet uns. Und mehr noch: Allein diesen beiden Ereignissen in einer angemessenen Form des Gedenkens an ein und demselben Tag gerecht zu werden, ist eine Zumutung. Schon der Versuch muss scheitern. Aber wir kommen um diesen 9. November nicht herum. Das könnte man Schicksal nennen. Oder Verantwortung.
Für kein November-Ereignis legt die Geschichte den Deutschen größere Verantwortung und Haftung auf als für die Pogromnächte von 1938. Mit ihrer flächendeckenden Gewaltorgie gegen jüdische Deutsche, der Zerstörung von Synagogen und Geschäften, der Menschenjagd auf offener Straße machten die Nationalsozialisten ihr Ziel offenkundig: Die Juden, ihre Kultur sollten aus Deutschland verschwinden. Das Fanal zeigte jedem, der es sehen wollte, die klare Absicht, den Juden im Reich die Lebensgrundlage zu entziehen. Man trachtete ihnen nach dem Leben.
Aber ihr Schicksal war noch nicht besiegelt, die systematische Ermordung in den Vernichtungslagern nicht absehbar. Die Terrornacht von 1938 war selbst in der NS-Machtelite umstritten. Göring beklagte die „sinnlose Zerstörung von Sachwerten“, von ablehnenden Reaktionen in der Bevölkerung zu schweigen. Und vermutlich wäre alles anders gekommen, wenn der Schweizer Maurice Bavaud am selben 9. November 1938 seinen Plan vollendet hätte, Hitler beim Gedenkmarsch zur Münchener Feldherrenhalle zu erschießen. Er kam nur nicht nahe genug an ihn heran. Auch ein Schicksal.
Die Dimension historischen Geschehens erschließt sich erst im Nachhinein, weil wir Geschichte immer von ihrem Ende her denken. Doch jedes Ende bleibt eine narrative Illusion. Die Geschichte, zumindest jedes ihrer epochalen Ereignisse, holt uns immer wieder ein. Weil sich Lesarten im Licht der Gegenwart wenden, wie die aktuelle Debatte um Theodor Eschenburg zeigt. Der einstige „Lehrer der Demokratie“ und Gründungsvater der Politikwissenschaft der deutschen Nachkriegszeit, ist als Namensgeber eines Preises nicht länger erwünscht, weil er in der NS-Zeit an der „Arisierung“ eines Unternehmens beteiligt gewesen sein soll und überdies SS-Mitglied war. Plötzlich ist nachrangig, dass Eschenburg vor- und nachher ein tadelloser Demokrat war. Es bleibt der Mitläufer, der Geduckte, von denen es zu viele gab.
Geschichte kehrt stets zurück, zuweilen mit Wendungen, die uns aufs Neue beschämen. Die Nachricht dieser Woche, dass die Leiche des berüchtigten Gestapo-Chefs Heinrich Müller womöglich bei Kriegsende in einem Massengrab auf dem Jüdischen Friedhof an der Großen Hamburger Straße bestattet wurde, gehört zu solchen entsetzlichen Wendungen. Der Nazitäter, begraben mit seinen Opfern, das ist schwer zu ertragen. Das Vergangene lässt uns nicht los, selbst die Toten kommen nicht zur Ruhe.
„Zu allem Handeln gehört Vergessen“, schreibt Nietzsche in seinem Traktat „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“. Je weiter ein Ereignis in die Vergangenheit entrückt, desto schwächer wirkt die Kraft der Erinnerung. So leicht macht es uns der 9. November nicht. Zu beladen ist das Datum. Mit Glück und Unglück. Es lehrt, dass wir unser Schicksal frei bestimmen müssen. Verantwortung verjährt nicht.

Dieser Beitrag im Tagesspiegel vom 3.11.2013

Sonntag, 22. September 2013

Geht hin und wählt!


Stephan Wiehler erinnert zur Bundestagswahl an den letzten Leitartikel des Publizisten Theodor Wolff im „Berliner Tagblatt“ – zur Reichstagswahl am 5. März 1933

Es habe einfach nicht genug Demokraten gegeben, um die Deutschen vor dem Sturz in die Hitler-Diktatur zu bewahren, so lautet ein oft gehörtes Urteil. Zu jenen, die Demokrat genug waren und ihre Stimme dafür erhoben, so lange sie konnten, gehörte der Publizist Theodor Wolff. Die Hoffnung in die demokratischen Kräfte bewahrte er noch, als der erste Schritt über den Abgrund schon getan war. Als Wolffs letzter Leitartikel im „Berliner Tagblatt“ am Sonntag der Reichstagswahl vom 5. März 1933 unter der Titelzeile „Geht hin und wählt!“ erschien, waren die wichtigsten Grundrechte der Weimarer Verfassung bereits außer Kraft gesetzt. Ermächtigt durch die Notverordnung nach dem Reichstagsbrand vom 27. Februar verschleppten die Nazis tausende politische Gegner, prügelten die Opposition mundtot – aber auch, wenn sie nicht frei war, diese Wahl, das Volk hatte sie doch. Sie war geheim und blieb für lange Zeit die letzte in Deutschland. 43,9 Prozent der abgegebenen Stimmen entfielen auf die NSDAP. Theodor Wolff floh über die Schweiz nach Frankreich, wo er im Mai 1943 der Gestapo in die Hände fiel. Im KZ Sachsenhausen erkrankte er an einer Infektion, vor 70 Jahren, am 23. September 1943 starb er im Jüdischen Krankenhaus in Berlin. 
Am heutigen Sonntag sind 61,8 Millionen Bürger aufgerufen, den 18. Deutschen Bundestag zu wählen. Das Interesse der Wähler war zuletzt so niedrig wie nie zuvor. 27,8 Prozent der Wahlberechtigten enthielten sich 2009 ihrer Stimme. Ein historischer Höchststand. Grund genug, Theodor Wolffs Leitartikel noch einmal im Wortlaut zu zitieren. Geht hin und wählt! Ein stimmgewaltiger Appell, der mahnt. Und erinnert: an ganz andere Verhältnisse.


Theodor Wolff (1868-1943)

  
„Wahlkampf? – seit dem Brand des Reichstagshauses hat er, in Preußen wenigstens, vollends aufgehört. Das Wort ‚Kampf’ setzt ja wohl voraus, daß Kämpfer, mit den Waffen des Geistes und der Sprache gerüstet, einander kampffähig gegenüberstehen. Solche Kampffähigkeit gab und gibt es für die Gegner der heutigen Regierung nicht. Auch die ruhigsten, einwandfreiesten, stets auf die Wahrung der staatlichen Ordnung bedachten Elemente unter ihnen sind mitbetroffen durch die ungeheuer scharfen Maßregeln, die dazu dienen sollen, den Kommunismus, und den Marxismus in all seinen Schattierungen, niederzuzwingen. Ward je in solcher Lage ein Reichstag gewählt?
       
Die freigesinnten Staatsbürger wissen, was für sie und für ihre Ideen von einer kommunistischen Herrschaft zu erwarten wäre, von ihren Methoden und von ihren Theorien. Die andere, die Moskauer Diktatur, und statt des rechten Fußes der linke auf dem Nacken der Demokratie. Sie machen allerdings einen Unterschied zwischen diesem deutschen Kommunismus, der seine Weisungen von den Machthabern Sowjetrußlands empfängt, und der deutschen Sozialdemokratie, die von Moskau stets nur höhnische Anklagen und grimmigste Schläge empfangen hat. Sie unterscheiden zwischen einer antiparlamentarischen Umsturzpartei, die so lange bewußt und konsequent alle Möglichkeiten parlamentarischer Arbeit und Ordnung zerstörte, bis die Unordnung den Boden für die heutigen Zustände bereitete, und der anderen Partei, die in der Erkenntnis der Staatsnotwendigkeiten gemeinsam mit bürgerlichen Widersachern ihrer Doktrin den schweren Weg ging, auf populäre Forderungen verzichtete und bisher ein Damm zwischen dem Bolschewismus und der bürgerlichen Gesellschaft war. Zu dieser realistischen Auffassung haben sich vierzehn Jahre lang Volkskreise und Männer bekannt, die weit entfernt von einer Hinneigung zur sozialistischen Weltanschauung sind. Und es braucht nicht erst daran erinnert zu werden, daß auch Hindenburg den Wert einigenden Zusammenwirkens anerkannte, als er sich mit Ebert über die Überwindung des Chaos verständigte und als er Hermann Müller auf den Kanzlerposten berief.
       
Aber es handelt sich für die nichtsozialistischen Freigesinnten heute nicht darum, den Anwalt der angeklagten Sozialdemokratie zu spielen, die ihre Sache selber vertreten kann. Es handelt sich, obgleich jede Meinung an diesem Tage ihren Ausdruck in der Stimmabgabe für irgendeine Partei findet, heute um viel mehr, um etwas anderes und Weiteres als all das, was auch der größte Parteirahmen umspannt. Gewiß mag es nichtig und gegenwartsfremd erscheinen, wenn man in einem Augenblick, wo als unmittelbare Nachwirkung des Reichstagsbrandes eine so drakonische Einschränkung der persönlichen Rechte erfolgt ist, von staatlicher und staatsbürgerlicher Freiheit spricht. Aber hinter der Periode der Ausnahmebestimmungen, die auch nach der von den Regierenden gegebenen Erläuterung nur Ausnahmebestimmungen sein und zur Niederhaltung verbrecherischer Gewalten dienen sollen, muß irgendwie und irgendwann eine andere Periode kommen, in der nicht mehr das ganze Leben eines Volkes unter dem qualmenden Feuerschein jenes ungeheuerlichen Abends liegt. Die Geschichtsbücher lehren, daß der Weg der Menschheitsentwicklung immer wieder ein Weg zur individuellen Freiheit war. Die Geschichtsbücher und ihre Lehren sind in den Reichstagsflammen nicht mitverbrannt.
       
Berliner Tageblatt vom 5.3.1933
Keine Notverordnung hat dem Staatsbürger das Recht genommen oder angetastet, am heutigen Tage zur Wahl zu gehen. Soweit auch sonst die Aufsichtsbefugnisse reichen, die geheime Wahl soll geschützt werden, diese Garantie bleibt bestehen. Wir fordern nicht auf, für irgendeine bestimmte Partei, für die eine oder die andere zu stimmen. Jeder wird wählen, wie es ihm seine Überlegung empfiehlt. Jeder, der in Freiheit, Sicherheit, Rechtsgleichheit und Heimatglück die höchsten Lebensgüter sieht, wird seine Stimme denjenigen geben, mit denen er sich einig in diesen Ideen fühlt. Für Freiheit, Sicherheit, Rechtsgleichheit und Heimatglück. Einen Wahlkampf hat es, für die Anhänger freiheitlicher Prinzipien wenigstens, nicht gegeben, aber hätten laute Versammlungsreden und gedruckte Wortfülle noch viel zur Erkenntnis beitragen können? Es gibt eine Wahl ohne Wahlkampf, und wer an diesem Tage den möglichen Übergang zu neuen, anderen Tagen schaffen will, der handelt danach und geht hin und wählt!“


Theodor Wolff in Wikipedia

Dieser Beitrag im Tagesspiegel



Freitag, 23. August 2013

Schulschwänzer in Berlin: Der Staat versagt – und wird teuer bezahlen


Wie viel Schutz, wie viel Fürsorge kann ein Kind vom Staat erwarten, wenn es drauf ankommt. Offenbar zu wenig, wie der Fall des 17-jährigen Analphabeten zeigt, dessen Mutter jetzt  zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wurde, nachdem ihr Sohn mehr als 1000 Schultage geschwänzt hat.
Die Hartz-IV-Empfängerin saß allein auf der Anklagebank. Doch versagt haben andere nicht weniger als sie. Auch Schulamt, Jugendamt, deren Aufsichtsbehörden und nicht zuletzt die politisch Verantwortlichen sind ihrem Erziehungsauftrag und ihrer Fürsorgepflicht nicht gerecht geworden. Und sie werden es in vielen vergleichbaren Fällen nicht. Allein im vergangenen Schuljahr fehlten in Berlin mehr als 3500 Kinder und Jugendliche zehnmal oder häufiger unentschuldigt, darunter waren rund 630 Schüler, die sogar 40 oder mehr unentschuldigte Fehltage hatten.
Diese Jungen und Mädchen berauben sich selbst, ohne dass sie es in ihrem Alter begreifen und in den Konsequenzen ermessen können, eines elementaren Bürgerrechts. Und bringen sich damit um eine selbstbestimmte Zukunft. Wenn nach zehn Jahren die Schulpflicht endet, wird ein großer Teil der Schulschwänzer ohne Abschluss, ohne berufliche Perspektive dastehen und dem Staat dauerhaft als Empfänger von Sozialleistungen auf der Tasche liegen.
Wie viele solcher halben Kaspar Hauser kann sich Berlin leisten? Eigentlich nicht einen einzigen. Schon heute beklagen Unternehmen die mangelnden Qualifikationen von Schulabgängern und können Ausbildungsplätze nicht besetzen, weil geeignete Bewerber fehlen.
Das Recht auf Bildung hat Verfassungsrang. Der Zugang zu Schule und Ausbildung ist Voraussetzung für die freie Persönlichkeitsbildung und die gesellschaftliche Teilhabe des Einzelnen. Um diese Rechte werden Schulschwänzer gebracht – auf ihre Kosten und die der Allgemeinheit. Denn der Staat zahlt in Zukunft für die Spätfolgen, die ungebildeten, perspektivlosen und hilfsbedürftigen Bürger, die er oft bis ans Lebensende finanziell unterstützen muss, ein Vielfaches mehr, als sich mit Kürzungen in der Kinder- und Jugendarbeit, in der Gewaltprävention, bei staatlichen Erziehungshilfen und schulbegleitenden Förderprogrammen in den zurückliegenden Jahren insgesamt zusammensparen ließ.
Und die Kinder? Die bezahlen für das staatliche Versagen mit Lebenschancen, im extremen Fall sogar mit dem Leben. Wie der sechsjährige Dennis aus Cottbus, dessen spurloses Verschwinden im Jahr 2001 lange niemandem auffiel, obwohl er schulpflichtig war. Als die Behörden aufmerksam wurden, ließen sie sich von den Eltern mit Ausreden hinhalten. Nach 18 Monaten fanden Polizisten die Leiche des verhungerten Jungen in der elterlichen Wohnung, verstaut in der Tiefkühltruhe.
Meldepflichten, Kontrollen und Sanktionsmittel sind seither verschärft worden. Geblieben ist, dass das Erziehungsrecht der Eltern meistens höher wiegt als die Verfassungsrechte von Kindern – jedenfalls, so lange die familiären Verhältnisse nicht vollkommen verwahrlost sind. Dieses Ungleichgewicht macht es den Behörden schwer, Kinder rechtzeitig in Obhut zu nehmen und ihnen zumindest zeitweise eine fürsorglichere Betreuung zuteil werden zu lassen als sie in ihren Elternhäusern möglich ist. Denn Bußgeldbescheide, Hausbesuche vom sozialpädagogischen Dienst oder Polizeieskorten zur Schule zeigen bei unzugänglichen Familien nur begrenzt Wirkung.
Im Zweifel müssen Kinder nicht immer bei ihren Eltern am besten aufgehoben sein. In jedem Fall aber haben junge Bürger einer zivilisierten Nation das Recht auf höhere Bildung als Kaspar Hauser.


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Freitag, 16. August 2013

Radler fahren sicherer...


...auf der Straße als auf dem Radweg. Das behauptet die Statistik.
Dass sie lügt, kann in Berlin jeder sehen – und am eigenen Leib erfahren

Willkommen auf der Straße, liebe Radfahrer. Auf dem glatten Asphalt geht’s schneller voran – und sicherer soll es auch sein als auf dem Fahrradweg. Doch dann knattert irgendein Mopedfahrer gefährlich dicht heran und schreit: „Hey, da ist ein Radweg!“ Trotz des Schrecks weist man beherrscht freundlich darauf hin, dass Radfahrer den nicht benutzen müssen; er solle doch mal die Straßenverkehrsordnung lesen. Aber dafür interessiert sich der Behelmte nicht. „Du hältst den ganzen Verkehr auf“, brüllt er und knattert stinkend davon. Radfahren ist ja so gesund.
Und je mehr Radler auf der Straße fahren, desto mehr Geld spart der Staat. Schließlich ist es viel billiger, ein paar zusätzliche Radstreifen auf die Straße zu malen und dafür die Fahrbahnen für Autos zu verengen, als bestehende Radwege instand zu halten. Jene Fahrradaktivisten, die Stimmung für die Demontage der blauen Gebotsschilder machen, welche Radfahrern zwingend vorschreiben, den Radweg zu benutzen, helfen in Berlin am Ende vor allem einem Senat, der die Ausgaben für die Radwege drastisch senken möchte. 
Der Mythos „Auf der Straße sind alle, die Räder unterm Hintern haben, sicherer als auf getrennten Wegen“, wirkt an dieser Stelle leider. Er verstärkt den Anschein, es werde etwas getan für die Verkehrsinfrastruktur – dabei ist das Gegenteil richtig: Ein großer Teil, nämlich die Radwege, wird dem Verfall preisgegeben. Und auf der verbleibenden Fläche, der Straße, kommen Autofahrer und Radfahrer weniger gut miteinander aus. Das kann jeder sehen – und am eigenen Leib erfahren. 
Und doch sieht es nicht jeder. Selbst passionierte Radfahrer wie Londons Bürgermeister Boris Johnson, erblicken in Berlin ein „Paradies für Fahrradfahrer, wo sich die helmlosen Horden über die weiten Alleen schlängeln und wo ein Mercedes ehrerbietig wartet, bis eine Familie seine schnurrende Motorhaube passiert hat“, wie Johnson kürzlich in einem Zeitungsbeitrag schrieb. Ja, der Anblick der vielen Radfahrer auf Berlins Straßen mag zu der Annahme verleiten, das Fahrrad sei das Gefährt der Könige im Verkehr. Dabei bleibt Radfahrern oft gar nichts anderes übrig als die Straße zu benutzen, weil die Radwege in erbärmlichem Zustand sind: von Baumwurzeln untertunnelte Holperpisten, zerklüftete Parcours, die nur noch mit Mountainbikes befahrbar sind. Von wegen Könige!
Aber an das Märchen von der erhöhten Sicherheit des Radfahrers auf der Straße glauben viele trotzdem. Warum? Moderne Mythen behaupten sich besonders hartnäckig, wenn sie mittels statistischer Kabbala wissenschaftliche Korrektheit vorgaukeln: Als Beleg für den Auf-der-Straße-sind-Fahrradfahrer-sicherer-Mythos dienen Studien, denen zufolge die Gefahr für Radfahrer, bei schweren Verkehrsunfällen mit Autos getötet oder verletzt zu werden, geringer ist, wenn sie auf der Straße fahren und nicht auf dem Radweg. Das mag stimmen, solange man nur die absoluten Unfallzahlen miteinander vergleicht.
Doch diese Zahlen lügen: Sie verschweigen, dass ein signifikanter Anteil von Fahrradfahrern die Straße meidet, selbst wenn es sicherer wäre, dort zu fahren als auf dem Radweg. Und das ist ausgerechnet jene Gruppe der älteren Verkehrsteilnehmer, die mit Abstand am häufigsten zu Opfern schwerer Radunfälle werden. Dass diese Menschen sich gar nicht trauen, mit dem Fahrrad auf der Straße zu fahren, ist ein Grund, dass die Unfallbilanz dort gleich besser aussieht. Die Alten bleiben entweder auf den Radwegen, oder sie geben – was sich unfallstatistisch nicht mehr erfassen lässt – das Radfahren auf, weil die maroden Strecken zu gefährlich werden. So führt der Mythos von der sicheren Straße auch dazu, dass gerade ältere Radfahrer einen Teil ihrer Mobilität einbüßen.
Die Straße bleibt nur den Starken – und Halbstarken. Der Radverkehr nimmt zu, der gemeinsam genutzte Verkehrsraum wird fortwährend kleiner, das erhöht den Stress aller Beteiligten. Sie schneiden sich und werden geschnitten, sie beleidigen und drohen sich. Und offenbar erhöht die ständige Gefahr auch die Vorsicht. Anders ist wohl kaum zu erklären, dass so wenig passiert.


Tagesspiegel vom 17.08.2013, Sonnabendbeilage MEHR BERLIN