Sonntag, 22. September 2013

Geht hin und wählt!


Stephan Wiehler erinnert zur Bundestagswahl an den letzten Leitartikel des Publizisten Theodor Wolff im „Berliner Tagblatt“ – zur Reichstagswahl am 5. März 1933

Es habe einfach nicht genug Demokraten gegeben, um die Deutschen vor dem Sturz in die Hitler-Diktatur zu bewahren, so lautet ein oft gehörtes Urteil. Zu jenen, die Demokrat genug waren und ihre Stimme dafür erhoben, so lange sie konnten, gehörte der Publizist Theodor Wolff. Die Hoffnung in die demokratischen Kräfte bewahrte er noch, als der erste Schritt über den Abgrund schon getan war. Als Wolffs letzter Leitartikel im „Berliner Tagblatt“ am Sonntag der Reichstagswahl vom 5. März 1933 unter der Titelzeile „Geht hin und wählt!“ erschien, waren die wichtigsten Grundrechte der Weimarer Verfassung bereits außer Kraft gesetzt. Ermächtigt durch die Notverordnung nach dem Reichstagsbrand vom 27. Februar verschleppten die Nazis tausende politische Gegner, prügelten die Opposition mundtot – aber auch, wenn sie nicht frei war, diese Wahl, das Volk hatte sie doch. Sie war geheim und blieb für lange Zeit die letzte in Deutschland. 43,9 Prozent der abgegebenen Stimmen entfielen auf die NSDAP. Theodor Wolff floh über die Schweiz nach Frankreich, wo er im Mai 1943 der Gestapo in die Hände fiel. Im KZ Sachsenhausen erkrankte er an einer Infektion, vor 70 Jahren, am 23. September 1943 starb er im Jüdischen Krankenhaus in Berlin. 
Am heutigen Sonntag sind 61,8 Millionen Bürger aufgerufen, den 18. Deutschen Bundestag zu wählen. Das Interesse der Wähler war zuletzt so niedrig wie nie zuvor. 27,8 Prozent der Wahlberechtigten enthielten sich 2009 ihrer Stimme. Ein historischer Höchststand. Grund genug, Theodor Wolffs Leitartikel noch einmal im Wortlaut zu zitieren. Geht hin und wählt! Ein stimmgewaltiger Appell, der mahnt. Und erinnert: an ganz andere Verhältnisse.


Theodor Wolff (1868-1943)

  
„Wahlkampf? – seit dem Brand des Reichstagshauses hat er, in Preußen wenigstens, vollends aufgehört. Das Wort ‚Kampf’ setzt ja wohl voraus, daß Kämpfer, mit den Waffen des Geistes und der Sprache gerüstet, einander kampffähig gegenüberstehen. Solche Kampffähigkeit gab und gibt es für die Gegner der heutigen Regierung nicht. Auch die ruhigsten, einwandfreiesten, stets auf die Wahrung der staatlichen Ordnung bedachten Elemente unter ihnen sind mitbetroffen durch die ungeheuer scharfen Maßregeln, die dazu dienen sollen, den Kommunismus, und den Marxismus in all seinen Schattierungen, niederzuzwingen. Ward je in solcher Lage ein Reichstag gewählt?
       
Die freigesinnten Staatsbürger wissen, was für sie und für ihre Ideen von einer kommunistischen Herrschaft zu erwarten wäre, von ihren Methoden und von ihren Theorien. Die andere, die Moskauer Diktatur, und statt des rechten Fußes der linke auf dem Nacken der Demokratie. Sie machen allerdings einen Unterschied zwischen diesem deutschen Kommunismus, der seine Weisungen von den Machthabern Sowjetrußlands empfängt, und der deutschen Sozialdemokratie, die von Moskau stets nur höhnische Anklagen und grimmigste Schläge empfangen hat. Sie unterscheiden zwischen einer antiparlamentarischen Umsturzpartei, die so lange bewußt und konsequent alle Möglichkeiten parlamentarischer Arbeit und Ordnung zerstörte, bis die Unordnung den Boden für die heutigen Zustände bereitete, und der anderen Partei, die in der Erkenntnis der Staatsnotwendigkeiten gemeinsam mit bürgerlichen Widersachern ihrer Doktrin den schweren Weg ging, auf populäre Forderungen verzichtete und bisher ein Damm zwischen dem Bolschewismus und der bürgerlichen Gesellschaft war. Zu dieser realistischen Auffassung haben sich vierzehn Jahre lang Volkskreise und Männer bekannt, die weit entfernt von einer Hinneigung zur sozialistischen Weltanschauung sind. Und es braucht nicht erst daran erinnert zu werden, daß auch Hindenburg den Wert einigenden Zusammenwirkens anerkannte, als er sich mit Ebert über die Überwindung des Chaos verständigte und als er Hermann Müller auf den Kanzlerposten berief.
       
Aber es handelt sich für die nichtsozialistischen Freigesinnten heute nicht darum, den Anwalt der angeklagten Sozialdemokratie zu spielen, die ihre Sache selber vertreten kann. Es handelt sich, obgleich jede Meinung an diesem Tage ihren Ausdruck in der Stimmabgabe für irgendeine Partei findet, heute um viel mehr, um etwas anderes und Weiteres als all das, was auch der größte Parteirahmen umspannt. Gewiß mag es nichtig und gegenwartsfremd erscheinen, wenn man in einem Augenblick, wo als unmittelbare Nachwirkung des Reichstagsbrandes eine so drakonische Einschränkung der persönlichen Rechte erfolgt ist, von staatlicher und staatsbürgerlicher Freiheit spricht. Aber hinter der Periode der Ausnahmebestimmungen, die auch nach der von den Regierenden gegebenen Erläuterung nur Ausnahmebestimmungen sein und zur Niederhaltung verbrecherischer Gewalten dienen sollen, muß irgendwie und irgendwann eine andere Periode kommen, in der nicht mehr das ganze Leben eines Volkes unter dem qualmenden Feuerschein jenes ungeheuerlichen Abends liegt. Die Geschichtsbücher lehren, daß der Weg der Menschheitsentwicklung immer wieder ein Weg zur individuellen Freiheit war. Die Geschichtsbücher und ihre Lehren sind in den Reichstagsflammen nicht mitverbrannt.
       
Berliner Tageblatt vom 5.3.1933
Keine Notverordnung hat dem Staatsbürger das Recht genommen oder angetastet, am heutigen Tage zur Wahl zu gehen. Soweit auch sonst die Aufsichtsbefugnisse reichen, die geheime Wahl soll geschützt werden, diese Garantie bleibt bestehen. Wir fordern nicht auf, für irgendeine bestimmte Partei, für die eine oder die andere zu stimmen. Jeder wird wählen, wie es ihm seine Überlegung empfiehlt. Jeder, der in Freiheit, Sicherheit, Rechtsgleichheit und Heimatglück die höchsten Lebensgüter sieht, wird seine Stimme denjenigen geben, mit denen er sich einig in diesen Ideen fühlt. Für Freiheit, Sicherheit, Rechtsgleichheit und Heimatglück. Einen Wahlkampf hat es, für die Anhänger freiheitlicher Prinzipien wenigstens, nicht gegeben, aber hätten laute Versammlungsreden und gedruckte Wortfülle noch viel zur Erkenntnis beitragen können? Es gibt eine Wahl ohne Wahlkampf, und wer an diesem Tage den möglichen Übergang zu neuen, anderen Tagen schaffen will, der handelt danach und geht hin und wählt!“


Theodor Wolff in Wikipedia

Dieser Beitrag im Tagesspiegel



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