Wie viel Schutz, wie viel Fürsorge kann ein Kind vom Staat
erwarten, wenn es drauf ankommt. Offenbar zu wenig, wie der Fall des
17-jährigen Analphabeten zeigt, dessen Mutter jetzt zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wurde,
nachdem ihr Sohn mehr als 1000 Schultage geschwänzt hat.
Die Hartz-IV-Empfängerin saß allein auf der Anklagebank. Doch
versagt haben andere nicht weniger als sie. Auch Schulamt, Jugendamt, deren Aufsichtsbehörden
und nicht zuletzt die politisch Verantwortlichen sind ihrem Erziehungsauftrag
und ihrer Fürsorgepflicht nicht gerecht geworden. Und sie werden es in vielen
vergleichbaren Fällen nicht. Allein im vergangenen Schuljahr fehlten in Berlin mehr
als 3500 Kinder und Jugendliche zehnmal oder häufiger unentschuldigt, darunter
waren rund 630 Schüler, die sogar 40 oder mehr unentschuldigte Fehltage hatten.
Diese Jungen und Mädchen berauben sich selbst, ohne dass sie
es in ihrem Alter begreifen und in den Konsequenzen ermessen können, eines
elementaren Bürgerrechts. Und bringen sich damit um eine selbstbestimmte
Zukunft. Wenn nach zehn Jahren die Schulpflicht endet, wird ein großer Teil der
Schulschwänzer ohne Abschluss, ohne berufliche Perspektive dastehen und dem Staat
dauerhaft als Empfänger von Sozialleistungen auf der Tasche liegen.
Wie viele solcher halben Kaspar Hauser kann sich Berlin
leisten? Eigentlich nicht einen einzigen. Schon heute beklagen Unternehmen die
mangelnden Qualifikationen von Schulabgängern und können Ausbildungsplätze
nicht besetzen, weil geeignete Bewerber fehlen.
Das Recht auf Bildung hat Verfassungsrang. Der Zugang zu
Schule und Ausbildung ist Voraussetzung für die freie Persönlichkeitsbildung und
die gesellschaftliche Teilhabe des Einzelnen. Um diese Rechte werden
Schulschwänzer gebracht – auf ihre Kosten und die der Allgemeinheit. Denn der
Staat zahlt in Zukunft für die Spätfolgen, die ungebildeten, perspektivlosen
und hilfsbedürftigen Bürger, die er oft bis ans Lebensende finanziell unterstützen
muss, ein Vielfaches mehr, als sich mit Kürzungen in der Kinder- und
Jugendarbeit, in der Gewaltprävention, bei staatlichen Erziehungshilfen und
schulbegleitenden Förderprogrammen in den zurückliegenden Jahren insgesamt
zusammensparen ließ.
Und die Kinder? Die bezahlen für das staatliche Versagen mit
Lebenschancen, im extremen Fall sogar mit dem Leben. Wie der sechsjährige
Dennis aus Cottbus, dessen spurloses Verschwinden im Jahr 2001 lange niemandem
auffiel, obwohl er schulpflichtig war. Als die Behörden aufmerksam wurden,
ließen sie sich von den Eltern mit Ausreden hinhalten. Nach 18 Monaten fanden
Polizisten die Leiche des verhungerten Jungen in der elterlichen Wohnung,
verstaut in der Tiefkühltruhe.
Meldepflichten, Kontrollen und Sanktionsmittel sind seither
verschärft worden. Geblieben ist, dass das Erziehungsrecht der Eltern meistens höher
wiegt als die Verfassungsrechte von Kindern – jedenfalls, so lange die
familiären Verhältnisse nicht vollkommen verwahrlost sind. Dieses
Ungleichgewicht macht es den Behörden schwer, Kinder rechtzeitig in Obhut zu
nehmen und ihnen zumindest zeitweise eine fürsorglichere Betreuung zuteil
werden zu lassen als sie in ihren Elternhäusern möglich ist. Denn Bußgeldbescheide,
Hausbesuche vom sozialpädagogischen Dienst oder Polizeieskorten zur Schule
zeigen bei unzugänglichen Familien nur begrenzt Wirkung.
Im Zweifel müssen Kinder nicht immer bei ihren Eltern am
besten aufgehoben sein. In jedem Fall aber haben junge Bürger einer
zivilisierten Nation das Recht auf höhere Bildung als Kaspar Hauser.
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