Freitag, 23. August 2013

Schulschwänzer in Berlin: Der Staat versagt – und wird teuer bezahlen


Wie viel Schutz, wie viel Fürsorge kann ein Kind vom Staat erwarten, wenn es drauf ankommt. Offenbar zu wenig, wie der Fall des 17-jährigen Analphabeten zeigt, dessen Mutter jetzt  zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wurde, nachdem ihr Sohn mehr als 1000 Schultage geschwänzt hat.
Die Hartz-IV-Empfängerin saß allein auf der Anklagebank. Doch versagt haben andere nicht weniger als sie. Auch Schulamt, Jugendamt, deren Aufsichtsbehörden und nicht zuletzt die politisch Verantwortlichen sind ihrem Erziehungsauftrag und ihrer Fürsorgepflicht nicht gerecht geworden. Und sie werden es in vielen vergleichbaren Fällen nicht. Allein im vergangenen Schuljahr fehlten in Berlin mehr als 3500 Kinder und Jugendliche zehnmal oder häufiger unentschuldigt, darunter waren rund 630 Schüler, die sogar 40 oder mehr unentschuldigte Fehltage hatten.
Diese Jungen und Mädchen berauben sich selbst, ohne dass sie es in ihrem Alter begreifen und in den Konsequenzen ermessen können, eines elementaren Bürgerrechts. Und bringen sich damit um eine selbstbestimmte Zukunft. Wenn nach zehn Jahren die Schulpflicht endet, wird ein großer Teil der Schulschwänzer ohne Abschluss, ohne berufliche Perspektive dastehen und dem Staat dauerhaft als Empfänger von Sozialleistungen auf der Tasche liegen.
Wie viele solcher halben Kaspar Hauser kann sich Berlin leisten? Eigentlich nicht einen einzigen. Schon heute beklagen Unternehmen die mangelnden Qualifikationen von Schulabgängern und können Ausbildungsplätze nicht besetzen, weil geeignete Bewerber fehlen.
Das Recht auf Bildung hat Verfassungsrang. Der Zugang zu Schule und Ausbildung ist Voraussetzung für die freie Persönlichkeitsbildung und die gesellschaftliche Teilhabe des Einzelnen. Um diese Rechte werden Schulschwänzer gebracht – auf ihre Kosten und die der Allgemeinheit. Denn der Staat zahlt in Zukunft für die Spätfolgen, die ungebildeten, perspektivlosen und hilfsbedürftigen Bürger, die er oft bis ans Lebensende finanziell unterstützen muss, ein Vielfaches mehr, als sich mit Kürzungen in der Kinder- und Jugendarbeit, in der Gewaltprävention, bei staatlichen Erziehungshilfen und schulbegleitenden Förderprogrammen in den zurückliegenden Jahren insgesamt zusammensparen ließ.
Und die Kinder? Die bezahlen für das staatliche Versagen mit Lebenschancen, im extremen Fall sogar mit dem Leben. Wie der sechsjährige Dennis aus Cottbus, dessen spurloses Verschwinden im Jahr 2001 lange niemandem auffiel, obwohl er schulpflichtig war. Als die Behörden aufmerksam wurden, ließen sie sich von den Eltern mit Ausreden hinhalten. Nach 18 Monaten fanden Polizisten die Leiche des verhungerten Jungen in der elterlichen Wohnung, verstaut in der Tiefkühltruhe.
Meldepflichten, Kontrollen und Sanktionsmittel sind seither verschärft worden. Geblieben ist, dass das Erziehungsrecht der Eltern meistens höher wiegt als die Verfassungsrechte von Kindern – jedenfalls, so lange die familiären Verhältnisse nicht vollkommen verwahrlost sind. Dieses Ungleichgewicht macht es den Behörden schwer, Kinder rechtzeitig in Obhut zu nehmen und ihnen zumindest zeitweise eine fürsorglichere Betreuung zuteil werden zu lassen als sie in ihren Elternhäusern möglich ist. Denn Bußgeldbescheide, Hausbesuche vom sozialpädagogischen Dienst oder Polizeieskorten zur Schule zeigen bei unzugänglichen Familien nur begrenzt Wirkung.
Im Zweifel müssen Kinder nicht immer bei ihren Eltern am besten aufgehoben sein. In jedem Fall aber haben junge Bürger einer zivilisierten Nation das Recht auf höhere Bildung als Kaspar Hauser.


Dieser Beitrag auf Tagesspiegel Online

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