Mittwoch, 18. Dezember 2013

Ein afrikanischer Regent für Berlins Schlossplatz

Nelson Mandela wäre ein ehrwürdiger Namensgeber für die Freifläche vor dem künftigen Humboldtforum. Aber nicht unbedingt der richtige: Mutiger wäre ein Bekenntnis zur deutschen kolonialen Vergangenheit - und ihren Opfern.

Nelson-Mandela-Platz 1: Der Vorschlag der Stiftung Zukunft Berlin, die Freifläche vor dem künftigen Schloss nach dem verstorbenen Friedensnobelpreisträger zu benennen, ist überdenkenswert. Die Adresse könnte Strahlkraft erzeugen für das Ansinnen, im neuen Humboldtforum einen Beitrag zur Versöhnung zu leisten zwischen den ehemaligen Kolonialherren und den von ihnen ausgebeuteten Völkern, und das möglichst auf Augenhöhe. Schließlich soll das neue Schloss in Berlins alter Mitte in wenigen Jahren zu einem „Ort der Weltkulturen“ werden.

Mit den außereuropäischen Sammlungen, die aus fernen Weltregionen nach Berlin getragen wurden, soll im barocken Imitat des ehemals kaiserlichen Dienstsitzes zugleich ein Dialog über Vielfalt und Werte der Weltkulturen in Gang kommen.
„Neugier anstelle von Vorurteil und Anschaulichkeit statt Ideologie sind hier wesentliche Antriebe. Dazu gehört, sich zur eigenen Geschichte zu bekennen“, lautet die staatstragende Vision, die der Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Hermann Parzinger, für das Humboldtforum hat.

Statt Nelson Mandela sollte Samuel Maherero geehrt werden

Ein Bekenntnis zur eigenen Geschichte ließe sich allerdings eher mit einem anderen Namen vor der Tür ablegen. Mandelas Vermächtnis ist aller Ehren wert, aber mit der kolonialen Erblast der Deutschen verbindet ihn nichts. Mutiger wäre es, für die Benennung des Schlossvorplatzes einen Namenspatron zu wählen, der unmittelbaren Bezug zur deutschen Kolonialvergangenheit herstellt. Im heutigen Namibia, dem ehemaligen Deutsch-Südwestafrika, steht ein Freiheitskämpfer bereit, der ein würdiges Andenken an diesem zentralen Ort verdient hätte. Sein Name ist Samuel Maherero.

Der Stammesführer der Herero, der 1904 den bewaffneten Aufstand gegen die rassistische Raub- und Gewaltherrschaft der deutschen Schutzmacht anführte, wird in seiner Heimat als Nationalheld verehrt, in Deutschland ist er nahezu vergessen. Die Erinnerung an das dunkle Kapitel deutscher Vergangenheit auf dem schwarzen Kontinent ist aus dem kollektiven Gedächtnis verdrängt. Denn die Geschichte des ehemaligen Priesterschülers und Stammesregenten gemahnt an das katastrophale Scheitern der kaiserlichen Kolonialträume vom „Platz an der Sonne“.


Samuel Maherero. Foto: Bundesarchiv

Es ist auch eine Geschichte verunglückter Annäherung, enttäuschter Freundschaft und missbrauchten Vertrauens. Samuel Maherero, der anfangs um Einvernehmen mit der deutschen Kolonialverwaltung bemüht war, sah seine politischen Hoffnungen auf ein gedeihliches Miteinander bald zerschlagen. Immer mehr einheimische Bauern verloren ihr Land an deutsche Siedler, die sie in die Lohnarbeit zwangen. Misshandlungen, Vergewaltigung und auch Morde durch die Farmer blieben in der Regel ungesühnt. Die fortschreitende Armutsabhängigkeit der Bevölkerung und die rassistischen Demütigungen des Alltags bereiteten der Rebellion den Boden.

Der Aufstand wurde niedergeschlagen. Die herausgeforderte Schutzmacht reagierte mit einem Vernichtungsbefehl. „Innerhalb der Deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen“, ordnete Generalleutnant Lothar von Trotha an. Die deutsche Heeresleitung rief einen „Rassenkampf“ aus. Flüchtlinge wurden von der Wasserversorgung abgeschnitten und verdursteten, tausende starben in Konzentrationslagern. Der vierjährige Vernichtungsfeldzug kostete 80.000 bis 100.000 Menschen das Leben. Nur 20 Prozent der am Aufstand beteiligten Stämme der Herero und Nama überlebten. Samuel Maherero gelang die Flucht nach Britisch-Betschuanaland, dem heutigen Botswana, wo er 1923 starb.

Deutschland hat den Völkermord an den Herero bis heute nicht anerkannt

Die Anerkennung als Völkermord, die das Massaker durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen erhielt, verweigert die Bundesregierung den Opfern und ihren Nachfahren bis heute – mit der Begründung, die 1948 beschlossene UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes könne nicht auf Ereignisse vor diesem Datum angewendet werden. Zur historischen und moralischen Verantwortung habe man sich aber wiederholt bekannt, auch gegenüber Namibia und den Nachfahren der Opfer, erklärte die Bundesregierung erst im August 2012.

Die Benennung des Schlossvorplatzes nach Samuel Maherero wäre ein Symbol dafür, dass sich Deutschland dieser Verantwortung auch im eigenen Land stellt, an sichtbarem und prominentem Ort. Der ehemalige Stammesfürst der Herero würde den versöhnlichen Anspruch des Humboldtforums adeln, an jenem Platz, von dem aus die afrikanischen Untertanen einst regiert wurden.

In Berlin war Samuel Maherero nie, anders als sein Sohn, dem der Vater zu besseren Zeiten den Königsnamen Friedrich gegeben hatte. Er durfte 1896 in die ferne Reichshauptstadt reisen. Bei einer Kolonialausstellung im Treptower Park diente Friedrich Maherero als Statist in einem „Negerdorf“.

Dieser Beitrag ist erschienen auf Tagesspiegel.de 16.12.2013


Montag, 4. November 2013

Schicksal und Geschichte. Der 9. November und die Deutschen


Neunter November, Schicksalstag der Deutschen. Was soll das sein, das Schicksal einer Nation? Fügung, Geschick, Vorsehung oder Zufall? Man kann dieses Datum wenden und wieder wenden, immer scheint etwas anderes auf. Im 9. November braut sich zusammen, was nicht zusammengehört: Räterevolution und Republik, Terrorputsch, Pogromfeuer, Vereinigungsglück.
Die Schicksalswege überlagern und kreuzen sich, irgendwie hängt alles in diesem 20. Jahrhundert zusammen, aber musste die Mauer ausgerechnet an einem 9. November fallen? Der glücklichste Tag der jüngsten deutschen Geschichte strahlt hell in die Gegenwart und droht zugleich die Erinnerung an das abgründigste Datum, die Brandnächte von 1938, zu verdunkeln.
So gnadenlos ist die Vergangenheit: Sie entgleitet uns. Und mehr noch: Allein diesen beiden Ereignissen in einer angemessenen Form des Gedenkens an ein und demselben Tag gerecht zu werden, ist eine Zumutung. Schon der Versuch muss scheitern. Aber wir kommen um diesen 9. November nicht herum. Das könnte man Schicksal nennen. Oder Verantwortung.
Für kein November-Ereignis legt die Geschichte den Deutschen größere Verantwortung und Haftung auf als für die Pogromnächte von 1938. Mit ihrer flächendeckenden Gewaltorgie gegen jüdische Deutsche, der Zerstörung von Synagogen und Geschäften, der Menschenjagd auf offener Straße machten die Nationalsozialisten ihr Ziel offenkundig: Die Juden, ihre Kultur sollten aus Deutschland verschwinden. Das Fanal zeigte jedem, der es sehen wollte, die klare Absicht, den Juden im Reich die Lebensgrundlage zu entziehen. Man trachtete ihnen nach dem Leben.
Aber ihr Schicksal war noch nicht besiegelt, die systematische Ermordung in den Vernichtungslagern nicht absehbar. Die Terrornacht von 1938 war selbst in der NS-Machtelite umstritten. Göring beklagte die „sinnlose Zerstörung von Sachwerten“, von ablehnenden Reaktionen in der Bevölkerung zu schweigen. Und vermutlich wäre alles anders gekommen, wenn der Schweizer Maurice Bavaud am selben 9. November 1938 seinen Plan vollendet hätte, Hitler beim Gedenkmarsch zur Münchener Feldherrenhalle zu erschießen. Er kam nur nicht nahe genug an ihn heran. Auch ein Schicksal.
Die Dimension historischen Geschehens erschließt sich erst im Nachhinein, weil wir Geschichte immer von ihrem Ende her denken. Doch jedes Ende bleibt eine narrative Illusion. Die Geschichte, zumindest jedes ihrer epochalen Ereignisse, holt uns immer wieder ein. Weil sich Lesarten im Licht der Gegenwart wenden, wie die aktuelle Debatte um Theodor Eschenburg zeigt. Der einstige „Lehrer der Demokratie“ und Gründungsvater der Politikwissenschaft der deutschen Nachkriegszeit, ist als Namensgeber eines Preises nicht länger erwünscht, weil er in der NS-Zeit an der „Arisierung“ eines Unternehmens beteiligt gewesen sein soll und überdies SS-Mitglied war. Plötzlich ist nachrangig, dass Eschenburg vor- und nachher ein tadelloser Demokrat war. Es bleibt der Mitläufer, der Geduckte, von denen es zu viele gab.
Geschichte kehrt stets zurück, zuweilen mit Wendungen, die uns aufs Neue beschämen. Die Nachricht dieser Woche, dass die Leiche des berüchtigten Gestapo-Chefs Heinrich Müller womöglich bei Kriegsende in einem Massengrab auf dem Jüdischen Friedhof an der Großen Hamburger Straße bestattet wurde, gehört zu solchen entsetzlichen Wendungen. Der Nazitäter, begraben mit seinen Opfern, das ist schwer zu ertragen. Das Vergangene lässt uns nicht los, selbst die Toten kommen nicht zur Ruhe.
„Zu allem Handeln gehört Vergessen“, schreibt Nietzsche in seinem Traktat „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“. Je weiter ein Ereignis in die Vergangenheit entrückt, desto schwächer wirkt die Kraft der Erinnerung. So leicht macht es uns der 9. November nicht. Zu beladen ist das Datum. Mit Glück und Unglück. Es lehrt, dass wir unser Schicksal frei bestimmen müssen. Verantwortung verjährt nicht.

Dieser Beitrag im Tagesspiegel vom 3.11.2013

Sonntag, 22. September 2013

Geht hin und wählt!


Stephan Wiehler erinnert zur Bundestagswahl an den letzten Leitartikel des Publizisten Theodor Wolff im „Berliner Tagblatt“ – zur Reichstagswahl am 5. März 1933

Es habe einfach nicht genug Demokraten gegeben, um die Deutschen vor dem Sturz in die Hitler-Diktatur zu bewahren, so lautet ein oft gehörtes Urteil. Zu jenen, die Demokrat genug waren und ihre Stimme dafür erhoben, so lange sie konnten, gehörte der Publizist Theodor Wolff. Die Hoffnung in die demokratischen Kräfte bewahrte er noch, als der erste Schritt über den Abgrund schon getan war. Als Wolffs letzter Leitartikel im „Berliner Tagblatt“ am Sonntag der Reichstagswahl vom 5. März 1933 unter der Titelzeile „Geht hin und wählt!“ erschien, waren die wichtigsten Grundrechte der Weimarer Verfassung bereits außer Kraft gesetzt. Ermächtigt durch die Notverordnung nach dem Reichstagsbrand vom 27. Februar verschleppten die Nazis tausende politische Gegner, prügelten die Opposition mundtot – aber auch, wenn sie nicht frei war, diese Wahl, das Volk hatte sie doch. Sie war geheim und blieb für lange Zeit die letzte in Deutschland. 43,9 Prozent der abgegebenen Stimmen entfielen auf die NSDAP. Theodor Wolff floh über die Schweiz nach Frankreich, wo er im Mai 1943 der Gestapo in die Hände fiel. Im KZ Sachsenhausen erkrankte er an einer Infektion, vor 70 Jahren, am 23. September 1943 starb er im Jüdischen Krankenhaus in Berlin. 
Am heutigen Sonntag sind 61,8 Millionen Bürger aufgerufen, den 18. Deutschen Bundestag zu wählen. Das Interesse der Wähler war zuletzt so niedrig wie nie zuvor. 27,8 Prozent der Wahlberechtigten enthielten sich 2009 ihrer Stimme. Ein historischer Höchststand. Grund genug, Theodor Wolffs Leitartikel noch einmal im Wortlaut zu zitieren. Geht hin und wählt! Ein stimmgewaltiger Appell, der mahnt. Und erinnert: an ganz andere Verhältnisse.


Theodor Wolff (1868-1943)

  
„Wahlkampf? – seit dem Brand des Reichstagshauses hat er, in Preußen wenigstens, vollends aufgehört. Das Wort ‚Kampf’ setzt ja wohl voraus, daß Kämpfer, mit den Waffen des Geistes und der Sprache gerüstet, einander kampffähig gegenüberstehen. Solche Kampffähigkeit gab und gibt es für die Gegner der heutigen Regierung nicht. Auch die ruhigsten, einwandfreiesten, stets auf die Wahrung der staatlichen Ordnung bedachten Elemente unter ihnen sind mitbetroffen durch die ungeheuer scharfen Maßregeln, die dazu dienen sollen, den Kommunismus, und den Marxismus in all seinen Schattierungen, niederzuzwingen. Ward je in solcher Lage ein Reichstag gewählt?
       
Die freigesinnten Staatsbürger wissen, was für sie und für ihre Ideen von einer kommunistischen Herrschaft zu erwarten wäre, von ihren Methoden und von ihren Theorien. Die andere, die Moskauer Diktatur, und statt des rechten Fußes der linke auf dem Nacken der Demokratie. Sie machen allerdings einen Unterschied zwischen diesem deutschen Kommunismus, der seine Weisungen von den Machthabern Sowjetrußlands empfängt, und der deutschen Sozialdemokratie, die von Moskau stets nur höhnische Anklagen und grimmigste Schläge empfangen hat. Sie unterscheiden zwischen einer antiparlamentarischen Umsturzpartei, die so lange bewußt und konsequent alle Möglichkeiten parlamentarischer Arbeit und Ordnung zerstörte, bis die Unordnung den Boden für die heutigen Zustände bereitete, und der anderen Partei, die in der Erkenntnis der Staatsnotwendigkeiten gemeinsam mit bürgerlichen Widersachern ihrer Doktrin den schweren Weg ging, auf populäre Forderungen verzichtete und bisher ein Damm zwischen dem Bolschewismus und der bürgerlichen Gesellschaft war. Zu dieser realistischen Auffassung haben sich vierzehn Jahre lang Volkskreise und Männer bekannt, die weit entfernt von einer Hinneigung zur sozialistischen Weltanschauung sind. Und es braucht nicht erst daran erinnert zu werden, daß auch Hindenburg den Wert einigenden Zusammenwirkens anerkannte, als er sich mit Ebert über die Überwindung des Chaos verständigte und als er Hermann Müller auf den Kanzlerposten berief.
       
Aber es handelt sich für die nichtsozialistischen Freigesinnten heute nicht darum, den Anwalt der angeklagten Sozialdemokratie zu spielen, die ihre Sache selber vertreten kann. Es handelt sich, obgleich jede Meinung an diesem Tage ihren Ausdruck in der Stimmabgabe für irgendeine Partei findet, heute um viel mehr, um etwas anderes und Weiteres als all das, was auch der größte Parteirahmen umspannt. Gewiß mag es nichtig und gegenwartsfremd erscheinen, wenn man in einem Augenblick, wo als unmittelbare Nachwirkung des Reichstagsbrandes eine so drakonische Einschränkung der persönlichen Rechte erfolgt ist, von staatlicher und staatsbürgerlicher Freiheit spricht. Aber hinter der Periode der Ausnahmebestimmungen, die auch nach der von den Regierenden gegebenen Erläuterung nur Ausnahmebestimmungen sein und zur Niederhaltung verbrecherischer Gewalten dienen sollen, muß irgendwie und irgendwann eine andere Periode kommen, in der nicht mehr das ganze Leben eines Volkes unter dem qualmenden Feuerschein jenes ungeheuerlichen Abends liegt. Die Geschichtsbücher lehren, daß der Weg der Menschheitsentwicklung immer wieder ein Weg zur individuellen Freiheit war. Die Geschichtsbücher und ihre Lehren sind in den Reichstagsflammen nicht mitverbrannt.
       
Berliner Tageblatt vom 5.3.1933
Keine Notverordnung hat dem Staatsbürger das Recht genommen oder angetastet, am heutigen Tage zur Wahl zu gehen. Soweit auch sonst die Aufsichtsbefugnisse reichen, die geheime Wahl soll geschützt werden, diese Garantie bleibt bestehen. Wir fordern nicht auf, für irgendeine bestimmte Partei, für die eine oder die andere zu stimmen. Jeder wird wählen, wie es ihm seine Überlegung empfiehlt. Jeder, der in Freiheit, Sicherheit, Rechtsgleichheit und Heimatglück die höchsten Lebensgüter sieht, wird seine Stimme denjenigen geben, mit denen er sich einig in diesen Ideen fühlt. Für Freiheit, Sicherheit, Rechtsgleichheit und Heimatglück. Einen Wahlkampf hat es, für die Anhänger freiheitlicher Prinzipien wenigstens, nicht gegeben, aber hätten laute Versammlungsreden und gedruckte Wortfülle noch viel zur Erkenntnis beitragen können? Es gibt eine Wahl ohne Wahlkampf, und wer an diesem Tage den möglichen Übergang zu neuen, anderen Tagen schaffen will, der handelt danach und geht hin und wählt!“


Theodor Wolff in Wikipedia

Dieser Beitrag im Tagesspiegel



Freitag, 23. August 2013

Schulschwänzer in Berlin: Der Staat versagt – und wird teuer bezahlen


Wie viel Schutz, wie viel Fürsorge kann ein Kind vom Staat erwarten, wenn es drauf ankommt. Offenbar zu wenig, wie der Fall des 17-jährigen Analphabeten zeigt, dessen Mutter jetzt  zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wurde, nachdem ihr Sohn mehr als 1000 Schultage geschwänzt hat.
Die Hartz-IV-Empfängerin saß allein auf der Anklagebank. Doch versagt haben andere nicht weniger als sie. Auch Schulamt, Jugendamt, deren Aufsichtsbehörden und nicht zuletzt die politisch Verantwortlichen sind ihrem Erziehungsauftrag und ihrer Fürsorgepflicht nicht gerecht geworden. Und sie werden es in vielen vergleichbaren Fällen nicht. Allein im vergangenen Schuljahr fehlten in Berlin mehr als 3500 Kinder und Jugendliche zehnmal oder häufiger unentschuldigt, darunter waren rund 630 Schüler, die sogar 40 oder mehr unentschuldigte Fehltage hatten.
Diese Jungen und Mädchen berauben sich selbst, ohne dass sie es in ihrem Alter begreifen und in den Konsequenzen ermessen können, eines elementaren Bürgerrechts. Und bringen sich damit um eine selbstbestimmte Zukunft. Wenn nach zehn Jahren die Schulpflicht endet, wird ein großer Teil der Schulschwänzer ohne Abschluss, ohne berufliche Perspektive dastehen und dem Staat dauerhaft als Empfänger von Sozialleistungen auf der Tasche liegen.
Wie viele solcher halben Kaspar Hauser kann sich Berlin leisten? Eigentlich nicht einen einzigen. Schon heute beklagen Unternehmen die mangelnden Qualifikationen von Schulabgängern und können Ausbildungsplätze nicht besetzen, weil geeignete Bewerber fehlen.
Das Recht auf Bildung hat Verfassungsrang. Der Zugang zu Schule und Ausbildung ist Voraussetzung für die freie Persönlichkeitsbildung und die gesellschaftliche Teilhabe des Einzelnen. Um diese Rechte werden Schulschwänzer gebracht – auf ihre Kosten und die der Allgemeinheit. Denn der Staat zahlt in Zukunft für die Spätfolgen, die ungebildeten, perspektivlosen und hilfsbedürftigen Bürger, die er oft bis ans Lebensende finanziell unterstützen muss, ein Vielfaches mehr, als sich mit Kürzungen in der Kinder- und Jugendarbeit, in der Gewaltprävention, bei staatlichen Erziehungshilfen und schulbegleitenden Förderprogrammen in den zurückliegenden Jahren insgesamt zusammensparen ließ.
Und die Kinder? Die bezahlen für das staatliche Versagen mit Lebenschancen, im extremen Fall sogar mit dem Leben. Wie der sechsjährige Dennis aus Cottbus, dessen spurloses Verschwinden im Jahr 2001 lange niemandem auffiel, obwohl er schulpflichtig war. Als die Behörden aufmerksam wurden, ließen sie sich von den Eltern mit Ausreden hinhalten. Nach 18 Monaten fanden Polizisten die Leiche des verhungerten Jungen in der elterlichen Wohnung, verstaut in der Tiefkühltruhe.
Meldepflichten, Kontrollen und Sanktionsmittel sind seither verschärft worden. Geblieben ist, dass das Erziehungsrecht der Eltern meistens höher wiegt als die Verfassungsrechte von Kindern – jedenfalls, so lange die familiären Verhältnisse nicht vollkommen verwahrlost sind. Dieses Ungleichgewicht macht es den Behörden schwer, Kinder rechtzeitig in Obhut zu nehmen und ihnen zumindest zeitweise eine fürsorglichere Betreuung zuteil werden zu lassen als sie in ihren Elternhäusern möglich ist. Denn Bußgeldbescheide, Hausbesuche vom sozialpädagogischen Dienst oder Polizeieskorten zur Schule zeigen bei unzugänglichen Familien nur begrenzt Wirkung.
Im Zweifel müssen Kinder nicht immer bei ihren Eltern am besten aufgehoben sein. In jedem Fall aber haben junge Bürger einer zivilisierten Nation das Recht auf höhere Bildung als Kaspar Hauser.


Dieser Beitrag auf Tagesspiegel Online

Freitag, 16. August 2013

Radler fahren sicherer...


...auf der Straße als auf dem Radweg. Das behauptet die Statistik.
Dass sie lügt, kann in Berlin jeder sehen – und am eigenen Leib erfahren

Willkommen auf der Straße, liebe Radfahrer. Auf dem glatten Asphalt geht’s schneller voran – und sicherer soll es auch sein als auf dem Fahrradweg. Doch dann knattert irgendein Mopedfahrer gefährlich dicht heran und schreit: „Hey, da ist ein Radweg!“ Trotz des Schrecks weist man beherrscht freundlich darauf hin, dass Radfahrer den nicht benutzen müssen; er solle doch mal die Straßenverkehrsordnung lesen. Aber dafür interessiert sich der Behelmte nicht. „Du hältst den ganzen Verkehr auf“, brüllt er und knattert stinkend davon. Radfahren ist ja so gesund.
Und je mehr Radler auf der Straße fahren, desto mehr Geld spart der Staat. Schließlich ist es viel billiger, ein paar zusätzliche Radstreifen auf die Straße zu malen und dafür die Fahrbahnen für Autos zu verengen, als bestehende Radwege instand zu halten. Jene Fahrradaktivisten, die Stimmung für die Demontage der blauen Gebotsschilder machen, welche Radfahrern zwingend vorschreiben, den Radweg zu benutzen, helfen in Berlin am Ende vor allem einem Senat, der die Ausgaben für die Radwege drastisch senken möchte. 
Der Mythos „Auf der Straße sind alle, die Räder unterm Hintern haben, sicherer als auf getrennten Wegen“, wirkt an dieser Stelle leider. Er verstärkt den Anschein, es werde etwas getan für die Verkehrsinfrastruktur – dabei ist das Gegenteil richtig: Ein großer Teil, nämlich die Radwege, wird dem Verfall preisgegeben. Und auf der verbleibenden Fläche, der Straße, kommen Autofahrer und Radfahrer weniger gut miteinander aus. Das kann jeder sehen – und am eigenen Leib erfahren. 
Und doch sieht es nicht jeder. Selbst passionierte Radfahrer wie Londons Bürgermeister Boris Johnson, erblicken in Berlin ein „Paradies für Fahrradfahrer, wo sich die helmlosen Horden über die weiten Alleen schlängeln und wo ein Mercedes ehrerbietig wartet, bis eine Familie seine schnurrende Motorhaube passiert hat“, wie Johnson kürzlich in einem Zeitungsbeitrag schrieb. Ja, der Anblick der vielen Radfahrer auf Berlins Straßen mag zu der Annahme verleiten, das Fahrrad sei das Gefährt der Könige im Verkehr. Dabei bleibt Radfahrern oft gar nichts anderes übrig als die Straße zu benutzen, weil die Radwege in erbärmlichem Zustand sind: von Baumwurzeln untertunnelte Holperpisten, zerklüftete Parcours, die nur noch mit Mountainbikes befahrbar sind. Von wegen Könige!
Aber an das Märchen von der erhöhten Sicherheit des Radfahrers auf der Straße glauben viele trotzdem. Warum? Moderne Mythen behaupten sich besonders hartnäckig, wenn sie mittels statistischer Kabbala wissenschaftliche Korrektheit vorgaukeln: Als Beleg für den Auf-der-Straße-sind-Fahrradfahrer-sicherer-Mythos dienen Studien, denen zufolge die Gefahr für Radfahrer, bei schweren Verkehrsunfällen mit Autos getötet oder verletzt zu werden, geringer ist, wenn sie auf der Straße fahren und nicht auf dem Radweg. Das mag stimmen, solange man nur die absoluten Unfallzahlen miteinander vergleicht.
Doch diese Zahlen lügen: Sie verschweigen, dass ein signifikanter Anteil von Fahrradfahrern die Straße meidet, selbst wenn es sicherer wäre, dort zu fahren als auf dem Radweg. Und das ist ausgerechnet jene Gruppe der älteren Verkehrsteilnehmer, die mit Abstand am häufigsten zu Opfern schwerer Radunfälle werden. Dass diese Menschen sich gar nicht trauen, mit dem Fahrrad auf der Straße zu fahren, ist ein Grund, dass die Unfallbilanz dort gleich besser aussieht. Die Alten bleiben entweder auf den Radwegen, oder sie geben – was sich unfallstatistisch nicht mehr erfassen lässt – das Radfahren auf, weil die maroden Strecken zu gefährlich werden. So führt der Mythos von der sicheren Straße auch dazu, dass gerade ältere Radfahrer einen Teil ihrer Mobilität einbüßen.
Die Straße bleibt nur den Starken – und Halbstarken. Der Radverkehr nimmt zu, der gemeinsam genutzte Verkehrsraum wird fortwährend kleiner, das erhöht den Stress aller Beteiligten. Sie schneiden sich und werden geschnitten, sie beleidigen und drohen sich. Und offenbar erhöht die ständige Gefahr auch die Vorsicht. Anders ist wohl kaum zu erklären, dass so wenig passiert.


Tagesspiegel vom 17.08.2013, Sonnabendbeilage MEHR BERLIN

Freitag, 2. August 2013

Macht nix

Ach, liebe Leserinnen und Leser, wie man’s macht, macht man’s verkehrt. Besonders, wenn es um die Macht geht. Denn wer die Macht hat, kann es niemandem recht machen. Macht nix, das kann sich allenfalls Angela Merkel sagen. An der Bundeskanzlerin prallen Affären ebenso ab wie Kanzlerkandidaten. NSA-Skandal, Eurohawk-Desaster, Steinbrück – keine ernsthaften Gefahren für die Teflonpfanne im Hosenanzug. Eine Mehrheit der Wähler weiß das offenbar zu schätzen. Aber so standhaft und erfolgreich wie die Pastorentochter aus Templin trotzen nur wenige Spitzenpolitiker der Realität. Wir haben uns mal ganz willkürlich ein paar Beispiele herausgegriffen.

MATTHIAS PLATZECK
Der Realität trotzen. Wer meint, mindestens das hat man in der DDR gelernt, sieht sich getäuscht. Brandenburgs Ministerpräsident gibt sein Amt mit Rücksicht auf die eigene Gesundheit auf. Platzeck konnte einfach alles: Ihm gehorchte das Hochwasser, kurze Zeit sogar die Bundes-SPD. Flughafen retten, den linken Koalitionspartner entzaubern, einmal im Jahr jedem im Land die Hand schütteln und ihm zuhören, wo der Schuh drückt, das geht an die Substanz. Mit unter 80 Wochenstunden Arbeitszeit ist der Landesvater „mit Lust und Leidenschaft“ für Platzeck nicht vorstellbar – und für seine Ärzte nicht länger verantwortbar.

KLAUS WOWEREIT
Von Berlins Regierendem Bürgermeister hätte Platzeck frühzeitig lernen können, wie man Überstunden auf angenehme Weise anhäuft, indem man die Nächte durchregiert. Hier mal eine Modemesse eröffnen, dort Bussifeste bei Udo Walz, dazu ein paar Gläser Champagner, so fällt das lange Warten auf den Hauptstadtflughafen leicht. Lust zum Regieren hat Wowereit trotzdem nicht mehr. Aber in der SPD will’s ja sonst keiner machen.

FRANK HENKEL
Als Oppositionsführer empfahl sich der CDU-Innenexperte als Law-and-Order-Mann, als Innensenator verstolperte er sich fast in einer V-Mann-Affäre. Und wurde schmallippig. Der Senatsvizechef ist inzwischen so still geworden, dass er Regierender werden könnte, ohne dass die Berliner es überhaupt bemerken.

CHRISTIAN STRÖBELE
Der 74-jährige Kreuzberg-Friedrichshainer Direktkandidat der Grünen will wohl höchstens noch Alterspräsident des Bundestages werden. Dabei weiß der Mann so viel. Sollte Ströbele in einer rot-grünen Regierung jemals was zu sagen bekommen, so ist hinter vorgehaltener Hand aus Geheimdienstkreisen zu hören, würden viele deutsche Agenten gleich ganz zu befreundeten Diensten überlaufen.


Erschienen im Tagesspiegel vom 03.08.2013, MEHR BERLIN

Montag, 29. Juli 2013

Nackt = friedfertig


Ach, liebe Leserinnen und Leser, diese Hitze! Wir dachten schon, sie sei auch Londons Bürgermeister Boris Johnson zu Kopf gestiegen, als er diese Woche in der britischen Tageszeitung „Telegraph“ von seinem Berlin-Besuch schwärmte und unsere Stadt in den azurblauen Himmel lobte. So lässig, relaxed und freizügig seien wir inzwischen, dass vor diesem Deutschland niemand in Europa mehr Angst haben müsse. Seine These: Von Leuten, die nackt im Park rumhängen und sich zum Sex in die Büsche schlagen, ist kein Angriffskrieg zu befürchten. Aber wird dieses Berlin-Bild auch in den gebeutelten EU-Krisenländern des Südens geteilt. Wir haben uns umgehört.

Der Grieche. „Kalimera! Ja, ja, habe ich gelesen. Natürlich, Berlin ist eine wunderschöne Stadt“, versichert Botschaftsrat Athanassios Lambrou. „Nur in einem Punkt hat Johnson unrecht: Dass die Mieten niedrig sind, kann man nicht behaupten.“ Er selbst sei erst vor kurzem hergezogen. „Ich habe eine 120-Quadratmeter-Wohnung gefunden und zahle 2000 Euro Miete. Das ist nicht gerade billig.“ Für das Geld bewohnt Lambrou aber keine Bruchbude – anders als mancher junger Grieche, der wegen fehlender Jobs in der Heimat ebenfalls sein Glück in Berlin sucht. Wegen der Mietpreise macht Athanassios Lambrou der deutschen Kanzlerin keine Vorwürfe.

Der Italiener. Der Ruf Angela Merkels, in den Südstaaten nicht selten als unbarmherzige Euro-Domina gescholten, lässt das Hipness-Image der Hauptstadt völlig unbeschadet. Dass es im sommerlichen Berlin womöglich nur deshalb so schön sei, weil die Kanzlerin Ferien macht, könne man gewiss nicht bestätigen, heißt es aus der italienischen Botschaft. Überhaupt sei auf die Anfrage für den „satirischen Wochenrückblick“ nur eine formelle Stellungnahme möglich. Beppe Grillo klingt anders.

Der Portugiese.  Fühlt sich hier zu Hause, weil „wir ebenso wie die Berliner eine offene und tolerante Seele haben“, sagt Luís de Almeida Sampaio. Auch darum sei er Botschafter in Berlin geworden und nicht in London. „Läge Berlin an der Atlantikküste, könnte es vielleicht eine noch lebenswertere Stadt als Lissabon sein.“

Der Spanier. „Ich bin ein großer Freund von Berlin“, sagt Pablo Lopez, spanischer Botschaftsrat. „Die Stadt ist so grün, viel Natur“ – er könne gut verstehen, dass viele Spanier die Freizügigkeit nutzten, um hier neue Erfahrungen zu sammeln. In den Grünanlagen? Oh, nein! Lopez meint das Recht aller EU-Bürger, Arbeit und Wohnort innerhalb der Union frei bestimmen zu können. Nackt im Park sei der Spanier selbst eher nicht so gerne.


Erschienen im Tagesspiegel vom 27.07.2013, MEHR BERLIN

Mittwoch, 3. Juli 2013

Leise hüpfen

Was macht die Familie? Wie ein Vater die Stadt erleben kann

Ohne Kinder wäre diese Stadt erwachsener, stiller. Vermutlich sogar friedlicher. Bevor wir das Trampolin in unserem Innenhofgarten aufgestellt hatten, war die Hausgemeinschaft mehrheitlich damit einverstanden. Jetzt ist die Atmosphäre irgendwie angespannt. Unser Hausverwalter lud zu einer außerordentlichen Eigentümerversammlung im Garten ein. Etwa ein Dutzend Bewohner erschien zu einem klärenden Gespräch. Gewichtige Fragen, über die sich die Eltern (uns eingeschlossen) keine Gedanken gemacht hatten, als sie das Trampolin gekauft und aufgestellt hatten, wurden erörtert: Stellt das Trampolin eine bauliche Veränderung der Gartenanlage dar? Welche wechselnden Standorte kommen infrage, um die Belastungen für die Hausbewohner möglichst gerecht zu verteilen? Müssen die Eltern das Spielgerät ständig beaufsichtigen? Der Verwalter verteilte Kopien mit einschlägigen Gerichtsurteilen.
Eine Anwohnerin verwies auf die Verkehrssicherungspflicht und den Haftungsausschluss für die Eigentümergemeinschaft gemäß der „Trampolinentscheidung“ des Bundesgerichtshofs (VI ZR 223/07, Urteil vom 3.6.2008).
Während die anwesenden Erwachsenen Argumente wogen, hüpften nebenan unsere Kinder auf dem neuen Spielgerät, damit die Versammlung sich einen Eindruck von der Lärmimmission des Vergnügens verschaffen konnte. Der in normaler Gesprächslautstärke und ohne richterliche Hilfe erzielte Kompromiss sieht nunmehr feste Nutzungs- und Ruhezeiten vor. Hüpfverbot täglich von 13 bis 15 Uhr, und am Wochenende dürfen Kinder den Innenhof erst ab 11 Uhr betreten.
Unsere Hausfriedensvereinbarung sieht jetzt strengere Regeln vor als das Landesimmissionsgesetz, das erst vor zwei Jahren zugunsten des Kinderlärms liberalisiert wurde. Darin heißt es: „Störende Geräusche, die von Kindern ausgehen, sind als Ausdruck selbstverständlicher kindlicher Entfaltung und zur Erhaltung kindgerechter Entwicklungsmöglichkeiten grundsätzlich sozialadäquat und damit zumutbar.“
Es gilt aber anzuerkennen, dass Großstadtbewohner gerade zu Hause ein ausgeprägtes Ruhebedürfnis und ein Recht darauf haben, sich vom lärmenden Betrieb draußen erholen zu können. Als Vater einer sechs- und einer zehnjährigen Tochter habe ich dafür großes Verständnis: In unserer Wohnung ist nur Ruhe, wenn die Kinder schlafen.
Inzwischen haben Kinder ja ohnehin kaum noch Zeit zum freien Lärmen, dank ihrer Vollbeschäftigung in ganztagsbetreuten Kitas und Schulen, in Sportvereinen, Musikstunden und etlichen Pflichtterminen mehr. Nur die Ferien bleiben ein Problem. Zwar verreisen viele Kinder mit ihren Eltern, aber die übrigen können dafür umso mehr nerven. Hier müsste der Senat was für den Lärmschutz tun: Wie wäre es mit einem großen Sommercamp, einem Zeltlager draußen vor der Stadt, irgendwo in der Nähe vom Flughafen Schönefeld, wo sie niemanden stören, die kleinen Krachmacher? | Stephan Wiehler

Innere Ruhe finden Sie im Buddhistischen Meditationszentrum Lotus Vihara, Neue Blumenstraße 5 in Mitte (U-Bhf. Schillingstraße). Jeden Sonntag ab 18 Uhr gibt es eine Einführung für Anfänger. Infos unter www.lotus-vihara.de

Dieser Beitrag im Tagesspiegel vom 1. Juli 2013


Freitag, 24. Mai 2013

Ich stehe auf der Liste



Extremisten veröffentlichen im Internet Berliner Adressen von Wohnungseigentümern, Investoren und Politikern – und rufen zu Gewaltaktionen auf. Die Bedrohung wirkt wie ein Gift auf das freie Lebensgefühl in dieser Stadt


Anleitung zu "kreativen Aktionen": Piktogramme auf der Website

Ich bin ein Angriffsziel. Ein potenzielles Opfer. Das ist ein mieses Gefühl. Das Haus, in dem ich wohne, steht auf der Abschussliste, genauer: auf der „Berlinerliste – MieterInnen stressen zurück“. Eine Internetseite, die „für kreative Aktionen gegen Verdrängung“ wirbt. Darunter dutzende Adressen: Neubauprojekte, Wohnungsbaugesellschaften, Investoren, Immobilienunternehmen, Makler, Agenturen und Verbände, Polizei- und Justizbehörden, Jobcenter, Senatsverwaltungen, Abgeordnetenhaus, Rotes Rathaus. Sogar die „Stiftung Zukunft Berlin“ steht auf der Liste.
Wie solche Aktionen aussehen könnten, zeigen sieben Piktogramme in gelben Kreisen: ein Pinsel; ein Bus, aus dem sich Fahnen schwenkende Demonstranten herauslehnen; eine Sprühdose; eine brennende Mülltonne; Farbkleckse an der Wand; ein Schraubenschlüssel gekreuzt mit einem Schraubenzieher; eine Computertastatur. Was lässt sich damit anstellen? Alles Mögliche vermutlich, der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Gesucht sind offenbar Leute, die den Mut haben, der Anstiftung Taten folgen zu lassen. Davon finden sich genug, wie unter dem Link „Aktionen“ nachzulesen ist. Eine Sammlung von Bekennerschreiben zu Anschlägen. Allein im Mai kam einiges zusammen: Die „Autonome Gruppe-Safaritour“ rühmt sich, in Kreuzberg das frisch gegossene Betonfundament für einen „Luxusneubau“ geflutet zu haben. Nächtliche „Besuche“ auf Baustellen, Brandstiftungen und Farbbeutelattacken, verhinderte Zwangsräumungen, Angriffe auf Jobcenter, die SPD-Zentrale in Wedding („verantwortlich für die ganze Hartz4-Scheiße“), eine Farbsprüherei an der Fassade des Landgerichts: „Zwangsräumung tötet!“
Auf der nach oben offenen Skala der Eskalation ist Luft genug für jeden Irren, der zu mehr entschlossen ist. Bei unserem Kinderarzt, der eine Neubauwohnung in einer Parallelstraße bewohnt, flogen Steine durchs Fenster - und landeten im Kinderzimmer. Die Botschaft ist angekommen: Wir sollen uns nicht sicher fühlen. Wir können die nächsten sein.
Wir, das sind meine Frau und ich, zwei Kinder, sechs und zehn. Ich lebe seit 23 Jahren in Berlin und habe nie jemanden verdrängt. Wir haben hier eine Familie gegründet, wir arbeiten hier, wir lieben diese Stadt. Und ja, uns geht es vergleichsweise gut, wir gehören wohl zu den Besserverdienenden. Wir haben uns eine Eigentumswohnung gekauft – auf Kredit. Für den Neubau, in dem wir wohnen, musste kein Mieter weichen. Wir fühlen uns unschuldig.
Aber wozu soll ich mich rechtfertigen? Gegen Terror nutzen keine rationalen Argumente. Wer versucht, sich herauszureden, ist schon eingeschüchtert. Angst, das ist für Extremisten die halbe Miete.
Ich habe Strafanzeige gestellt – wegen Bedrohung und Anstiftung zu Straftaten. Gegen Unbekannt. Die Opfer haben Namen, die Täter nicht. Die linken Webmaster operieren im Schutzraum der Anonymität, wie ihre zahlreichen Mittäter, die auf der Seite neue Angriffsziele vorschlagen, sich mit bewaffneten Gruppen solidarisch erklären, zum „Kampf der Lohnarbeit als Sklaverei!“ oder zur „Sabotage der kapitalistischen Stadt“ aufrufen.
Was haben wir damit zu tun? In unserem Haus wohnen Italiener, Franzosen, Holländer, Deutschrumänen, Linksliberale und Konservative, Schwule, Atheisten und Juden. Ich glaube, es sind drei Juden. Das reicht nicht, um Polizeischutz zu beanspruchen. Sollen wir Brandwachen an unseren Mülltonnen aufstellen? Oder nach München umziehen?
Bloß nicht übertreiben! Nicht bange machen lassen! Ist ja nur eine kleine Minderheit, die uns bedroht, und noch kleiner ist die Gruppe militanter Extremisten. Aber es ist eine mächtige Minderheit, die längst bestimmt, wo Guggenheim kein Lab errichtet, wo Investoren bauen dürfen und Neuberliner besser nicht schwäbisch schwätzen. Sie vergiftet das Lebensgefühl in einer Stadt, die sich so gerne als weltoffen und tolerant ausgibt.
Und wo immer ihre Drohungen Wirkung zeigen, gibt die Stadt ein Stück Freiheit preis. Das geht uns alle an. Ich höre sie schon höhnen, die autonomen Webmaster: Jetzt wird er pathetisch und ruft nach Verstärkung! Stimmt schon. Es ist ein beschissenes Gefühl, zum Opfer erklärt zu werden.

Erschienen im Tagesspiegel vom 25.05.2013Sonnabendbeilage MEHR BERLIN 

Mittwoch, 15. Mai 2013

Angela Merkel und die DDR - eine deutsche Geschichte



Wie viel Gefühl entscheidet in diesem Wahlkampf? Was zählt der Mensch hinter den Kandidaten in Prozentpunkten? Mit ihren Biografien, Haltungen, ihren Widersprüchen? Angela Merkel, die Bundeskanzlerin mit DDR-Vergangenheit, war bei den Jungen Pionieren und in der FDJ, wie fast alle. In der staatstragenden SED war sie nie, aber auch eine Oppositionelle wurde sie erst im Herbst 89. Wie die Mehrheit der DDR-Bürger. Die Pfarrerstochter und Einser-Abiturientin war unauffällig – und auffällig genug, dass sie die Stasi beobachtete. Sie wollte studieren. Also fügte sie sich ins System. Ihre Dissertation schloss sie mit „Sehr gut“ ab, das Pflichtfach Marxismus-Leninismus nur mit „Genügend“. Dass sie in der subalternen Funktion als FDJ-Kulturreferentin auch für Agitation und Propaganda zuständig gewesen sein soll, mag sein, sagt sie. Wenn es so war, „wird man auch damit leben können“.
Eine ehrliche Antwort – in Ostdeutschland versteht sie jeder. Dort hat man gelernt, unter widrigen Umständen zu leben, vor der Wende und danach. Auch das Leben in der freiheitlichen Demokratie verlangte Anpassung, wer wüsste das besser in diesem Land als ehemalige DDR-Bürger?
Das ist ein Erfahrungsvorsprung, der nicht einzuholen ist. Schon gar nicht durch Besserwisserei. Wer klug ist, hört besser zu, als vorschnell zu urteilen. Der SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück ist klug genug, sich in dieser Debatte zurückzuhalten. Denn im Mittelpunkt steht die Frage nach dem menschlichen Maß, das wir anlegen, um Biografien in unterschiedlichen Systemen und Machtgefügen gerecht zu bewerten, zumal derjenigen, die uns regieren wollen. Man wüsste gern, mit welchen allzu menschlichen Bekenntnissen Steinbrück noch punkten könnte, um in vergleichbarer Art an Kontur, an Glaubwürdigkeit und Authentizität zu gewinnen.
Die neueste Auflage der Ost-West-Debatte, die sich an der DDR-Vergangenheit der ersten Frau im Staat aufhängt, ist nicht wahlentscheidend. Aber Angela Merkel kann sie nützen. Mit ihrer entspannten Haltung zur eigenen Geschichte, ihrem gelassenen Umgang mit der Erfahrung der Ambivalenz, mit ihrem freimütigen Bekenntnis zu einer Vergangenheit im stillschweigenden Widerspruch, der nicht zum Widerstand wurde, gewinnt sie Profil. Es ist keine Heldengeschichte, sondern eine Geschichte vom gewöhnlichen Mittelmaß, eine, die mehrheitsfähig zur Identifikation taugt. Ihre Botschaft: Man konnte in der DDR leben, man durfte dort glücklich, sogar erfolgreich sein, ohne sich unentschuldbar in das repressive System zu verstricken. Dies anzuerkennen, macht die DDR keinen Deut besser als sie war und mindert nicht den Respekt, den diejenigen verdienen, die mutiger waren und dem Regime die Stirn boten.
Immerhin: Knapp ein Vierteljahrhundert musste ins Land gehen, ehe der Blick auf die DDR und ihre Bürger solch menschliche Milde erlaubte. Der Aktenstaub über dem Kampfplatz der unmittelbaren Aufarbeitung hat sich gelegt, die alten Seilschaften sind gekappt, die Stasi-Spitzel kaltgestellt – die Nebenwirkungen der bitteren Therapie, die unter anderem die SED-Nachfolgepartei als Identitätsstifterin für jene Ostdeutschen erstarken ließ, die sich vom Kapitalismus überrannt fühlten, lassen langsam nach.
Auch die Union hat eine Rote-Socken-Kampagne heute nicht mehr nötig. Angela Merkel, die Kanzlerin aus Templin, lädt zum differenzierten Blick auf die ostdeutsche Teilerfahrung ein. Sie gehört zur gesamtdeutschen Identität, doch es gibt noch viel zu sagen, bevor es sich ins kollektive Gedächtnis der Nation einprägt. Die Geschichten müssen erzählt werden, damit sie uns verbinden können. Es braucht immer noch Mut dazu, vom Leben in der DDR zu erzählen. Und Geduld zuzuhören. Aber es lohnt sich. Es geht nämlich gut aus: mit einer friedlichen und erfolgreichen Revolution. Eine seltene deutsche Geschichte, an der auch Angela Merkel ihren Anteil hat.

Montag, 6. Mai 2013

Draußen nur Kannen!


Sobald die Sonne scheint, ist auf Gehwegen vor Lokalen kaum noch ein Durchkommen. Eine einzige Fußgängelei! Dieser Berlinblockade ist selbst mit alliierten Kiezstreifen nicht Herr zu werden. Da hilft nur Abschreckung.



Foto: Kai-Uwe Heinrich
Ich wohne nicht mehr in der Schlesischen Straße. Wir sind vor zwei Jahren weggezogen, gerade noch rechtzeitig. Das sagen alle, denen ich erzähle, dass wir da mal gewohnt haben. Seid froh, dass ihr weggezogen seid. Da kann man nicht mehr wohnen. Das ist nur noch eine einzige Partymeile. Sagen alle. Abends einfach nach Hause kommen? Unmöglich. Ständig blockieren Gäste von der Kneipe nebenan den Hauseingang. Dürfen wir mal durch? Unwilliges Pohälftenrücken. Danke. Morgens der Tritt in Scherben – wenn es gut läuft. Läuft es schlecht, liegt noch eine Alkleiche vor der Tür und schläft ihren Rausch aus.
Und jetzt geht das wieder los. Sobald es Frühling ist, stellen sie ihre Tische, Bierbänke und Stühle raus, fahren ihre Markisen aus, grenzen ihr Territorium mit Blumenkübeln ab und blockieren die Transitwege dieser Stadt. Passanten werden zu Hindernisläufern. Es ist eine einzige Fußgängelung.
Leute, versteht mich nicht falsch! Ich sitze auch gerne in der Sonne, esse an lauen Abenden mal eine Pizza draußen und trinke dazu ein Bier, oder zwei. Ich habe nichts gegen Gastwirtschaft. Kneipenbesitzer bezahlen Gebühren für die Sondernutzung öffentlichen Straßenlandes, davon profitieren wir alle. Aber es muss doch im vernünftigen Maß bleiben. Es heißt schließlich Gehweg und nicht Sitzweg.
Von April bis Oktober ist an vielen Orten dieser Stadt kein Durchkommen mehr. Ob in Prenzlauer Berg, in Friedrichshain, Kreuzberg oder Mitte – in den Zonen des ausufernden Vergnügens fühlt man sich auf Bürgersteigen wie ein Störenfried, der durch fremde Esszimmer marschiert. Es ist mir unangenehm, wenn Gäste mit den Stühlen rücken müssen, ehe ich passieren kann. Und dass ich in jedem Moment darauf gefasst sein muss, dass eine Bedienung mit vollem Tablett zur Tür herausgeschossen kommt und über mich stürzt.
In § 25 der Straßenverkehrsordnung heißt es: „Wer zu Fuß geht, muss die Gehwege benutzen. Auf der Fahrbahn darf nur gegangen werden, wenn die Straße weder einen Gehweg noch einen Seitenstreifen hat.“ Der Gehweg dient dazu, auf zwei Beinen von Punkt A nach Punkt B zu gelangen. Es ist ein transitorischer Ort, eine Passage. Zu Fuß gehen ist ein Menschenrecht. Kann ja wohl nicht sein, dass ich mich aufs Fahrrad oder ins Auto setzen muss, um ungehindert durch die Stadt zu kommen.
Und, Pardon, wenn ich auf Paragrafen herumreite: Nach § 11 des Berliner Straßengesetzes ist jede Benutzung öffentlichen Straßenlandes, „die über den Gemeingebrauch hinausgeht“ eine genehmigungspflichtige „Sondernutzung“. Die Erlaubnis dazu wird erteilt, „wenn überwiegende öffentliche Interessen der Sondernutzung nicht entgegenstehen“. Kurz: Fußgänger haben Vorrang. 
Die Wegelagerei nervt. Was soll daran Vergnügen oder Erholung sein, im tosenden Verkehr zu hocken und Passanten den Weg zu versperren? Gegen diese Unart ist der Coffee to go ein kultureller Fortschritt. In Berlin gibt es Platz genug, um sich unter freiem Himmel zu verköstigen – in Biergärten, auf Plätzen, in Strandbars und Hinterhöfen, auf Grillflächen oder beim Picknick im Park. Frische Luft und schöne Aussichten gibt’s gratis dazu. Stattdessen belagern die Massen die Trottoirs bis an den Straßenrand, inhalieren Autoabgase und verbreiten Stress. Anwohner werden um ihre Feierabendruhe gebracht, Kinder finden keinen Schlaf und versagen in der Schule, Polizei rückt an und ab, in den Umweltämtern stapeln sich die Anzeigen wegen Lärmbelästigung.
Jahr für Jahr steigt die Zahl der Sondernutzungen, stehen mehr Bierbänke, Tische und Stühle vor den Lokalen. Dieser Berlinblockade ist selbst mit alliierter Macht aller Kiezstreifen nicht Herr zu werden. Da hilft nur Abschreckung. Ein kräftiger Aufschlag bei den Nutzungsgebühren für Straßenland wäre ein Anfang – dazu am besten eine Selbstverpflichtung der Gastronomie, nach dem Vorbild der fast vergessenen Tradition: Draußen nur Kännchen! Schluss mit dem stundenlangen Genippe am kalten Cappuccino oder pisswarmen 0,3-Pils. Wer auf dem Gehsteig zecht, der blecht – und bekommt pitcher-, maß- oder eimerweise serviert. Draußen nur Kannen! Das erspart dem Personal Laufwege und füllt dem Wirt die Kasse. Und, liebe Leute, rückt zusammen! Macht den Gang frei!

Erschienen im Tagesspiegel vom 4. Mai 2013
Sonnabendbeilage MEHR BERLIN

Zahn der Zeit


Der Frühling nährt die Hoffnung: Es wächst immer etwas nach. So lange noch Leben in der Wurzel, die Saat nicht ganz verdorben ist, kann Neues entstehen. Das sagen auch Paartherapeuten. Nur bei Zähnen (und bei Männern auch bei den Haaren) sind natürliche Grenzen gesetzt. Zwei Wochen lang hat Greta, unsere Sechsjährige, an ihrem ersten Wackelzahn laboriert. In der Mathestunde hatte sie ihn endlich in der Hand. Abends saß sie stolz am Tisch und hatte den Milchzahn auf einem Unterteller neben ihrem Gedeck platziert. Der Zahn sollte wohl noch einmal beim Essen dabei sein, bevor er der Zahnfee überantwortet werden sollte.
Viel lieber wollte Greta den kleinen Schneidezahn aber behalten: „Ich könnte die Zähne sammeln und später eine Halskette daraus machen.“ Die Idee hörte sich so ausgereift an, dass sie ihr vermutlich ihre große Schwester eingeflüstert hat. Als Vater wünschte ich mir, meine zehnjährige Tochter würde sich mehr für die eigenen Zähne engagieren. Bei ihr sind es nämlich schon die zweiten, und wir bekommen beim Zahnarzt jedes Mal zu hören, dass sie sie nicht richtig putzt.
Dabei hat Emma hat einen deutlich ausgeprägteren Hang zum Bewahrenden als Greta. Eine echte Berlinerin. Jede Abrissbaustelle auf dem Schulweg rührt ihr Herz. Zurzeit betrauert sie das IBA-Haus am Lützowplatz, das gerade in Trümmer gelegt wurde, und den alten Güterschuppen an den Yorckbrücken, der zuletzt ein Möbellager beherbergte und jetzt zum Schuttberg zusammengekehrt wird. Dass dort bald etwas Neues entsteht, tröstet Emma nicht.
Berlin ist eine Stadt der Lücken und Prothesen. „Schau mal da, die Gedächtniskirche. Die Berliner nennen sie Hohler Zahn“, erzähle ich Emma. „Vielleicht fällt der auch bald aus, wenn das ein hohler Zahn ist“, sagt Greta. Da fällt mir ein: Ich müsste längst mal wieder zur Prophylaxe. | Stephan Wiehler


Dieser Beitrag ist in Zitty 10/2013 erschienen


Donnerstag, 18. April 2013

Stillgehalten

Die Union und die Quote: Zu wenig Demokratie gewagt


Am Ende ging es gar nicht mehr um die Frauenquote, ob fest oder flexi, heute oder übermorgen – im Bundestag wurden am Donnerstag noch einmal die bekannten Argumente ausgetauscht, und nach der erwartbaren Debatte folgte das Ergebnis, das kommen musste: berechenbar nach den Mehrheitsverhältnissen, denen frei gewählte Abgeordnete ihre Überzeugungen unterordnen, wenn es der Fraktionszwang oder ein Parteitagsbeschluss gebieten. Die Verfassung kennt weder das eine noch das andere, sie bindet die Entscheidungsfreiheit eines jeden Parlamentsmitglieds allein an sein Gewissen. Die unterlegenen Frauen und Männer der Regierungskoalition, die den Antrag der Opposition für eine gesetzliche Quotenregelung angeblich so gerne mitgetragen hätten und nun weitere Jahre auf die Freiwilligkeit der Wirtschaft vertrauen, werden wohl auch ihr Stillhalteabkommen irgendwie mit ihrem Gewissen vereinbaren – und den gefundenen Kompromiss im bevorstehenden Wahlkampf als Erfolg verkaufen müssen. So ist Politik.
Aber diese Machtprobe bleibt für alle Beteiligten eine Niederlage, besonders schmerzhaft für die CDU, deren erste Spitzenfrau das Parteivolk doch so flexibel wie keine andere Führungskraft vor ihr auf den Zeitgeist einzustellen weiß. Angela Merkel, die sonst so versierte Taktikerin der Macht, hätte jedes Abstimmungsergebnis über die Quote vertreten können; auch ein fraktionsübergreifendes Votum für den Gesetzentwurf von SPD und Grünen: Der große parlamentarische Konsens für die gesetzliche Frauenquote in Aufsichts- und Verwaltungsräten wäre als deutliches Bekenntnis zur Gleichstellung der Geschlechter auch in der Bevölkerung mitgetragen worden. Thema abgeräumt, Debatte beendet.
Nein, die Frauenquote wird nicht wahlentscheidend sein. Euro, Arbeit, Sicherheit: Es gibt Wichtigeres. Die Union, geschweige denn die Koalition, wäre an dieser Frage gewiss nicht zerbrochen, selbst wenn offen und heftig diskutiert worden wäre. Und offenbar sehen das die Ministerinnen Ursula von der Leyen und Kristina Schröder und die meisten ihrer Mitstreiterinnen und Unterstützer ganz genauso. Es war ihnen nicht wichtig genug. Andernfalls hätten sie mehr Mut gezeigt, mehr Demokratie gewagt.
Es hätte sie wenig gekostet, ihrem Willen zu folgen, für die politische Überzeugung und das gemeinsame Anliegen mit der Opposition einzustehen und ihre gesetzgeberische Macht als Parlamentarier zu nutzen. Stattdessen haben sich die Befürworter der gesetzlichen Quote auf ein Wahlversprechen des Unionsfraktionschefs Volker Kauder vertrösten lassen. Sie wird schon kommen, die Quote, gleich nach der Wahl, wenn wir sie gewinnen, und wenn die Wirtschaft dann nicht freiwillig Frauen vorlässt ... und wenn Worte nicht bloß Worte bleiben.
Auch so ist Politik. Manchmal sind Kompromisse eben faul. Sie werden nicht dadurch glaubwürdiger, dass man sie nachträglich noch betanzt. Niemand verlangt von Verlierern, sich über eine Niederlage zu freuen. Aber in dieser Frage hätte es gar nicht viel Mut gekostet, standhaft zu bleiben – um der Selbstachtung willen und aus Respekt vor dem Mandat des Abgeordneten. Es ist immer auf Zeit geliehen. Auch noch so strenge Partei- und Fraktionsdisziplin vermögen den Aufenthalt im Parlament nicht zu verlängern, wenn sich bei Wählern der Eindruck verfestigt, Parlamentarier lassen sich ihre Überzeugungen abkaufen. Frauen, die stillhalten, nutzen der Gleichstellungspolitik wenig. | Stephan Wiehler

Leitartikel im Tagesspiegel vom 19. April 2013

Freitag, 5. April 2013

Wohnen ist so immobil


Ach, liebe Leserinnen und Leser, das große Drama dieser Stadt ist, dass Glanz und Elend so nah beieinanderliegen. Mitunter fällt es schwer, das eine vom anderen zu unterscheiden. In anderen Großstädten wie Gelsenkirchen oder Kinshasa würden sich die Menschen über ein wenig Gentrifizierung (von engl. gentry: Adel), also den Zuzug von Wohlhabenden und die Aufwertung von Stadtteilen, freuen. In Berlin bleibt man lieber unter sich, alles soll besser bleiben, wie es ist, auch auf die Gefahr hin, dass bald wieder Balkone abstürzen. Die Folgen: Wohnungsnot und Preisanstieg. Es trifft alle: Alte, Arme, Alleinerziehende – auch Minderheiten wie Familien mit Kindern. Sogar die Begabten, die künftigen Eliten. Allein 900 Bewerber für einen Wohnplatz stehen vor Beginn des neuen Semesters auf der Warteliste des Berliner Studentenwerks. Neue Wohnheime sollen gebaut werden. Doch bis sie stehen, ist Kreativität gefragt. Hey, Kreativität ist unser zweiter Vorname! Wir hätten ein paar Ideen, wo Studierende schnell und günstig unterkommen könnten:

Campus Tempelhof

Das größte Gebäude der Stadt steht größtenteils leer, teilweise im Rohbau. Die US-Alliierten hinterließen am ehemaligen Flughafen Turnhallen, Cafeterias, Gemeinschaftssäle. Mit ein paar hundert Etagenbetten und gutem Willen ist hier in wenigen Monaten ein prima Studentendorf gestemmt, mit U- und S-Bahn-Anschluss – und in ein paar Jahren steht gleich nebenan die neue Landesbibliothek.

Kommune 2.0

Sie waren die ersten Gentrifizierer in Berlin: Auf der Straße riefen sie nach Ho Chi Minh, zu Hause richteten sie sich teuer ein. Mit den 68ern kamen italienisches Design, gut sortierte Weinläden, Edelgastronomie. Inzwischen sind sie Architekten, Anwälte oder frühpensionierte Lehrer; die Kinder sind aus dem Haus und in ihren Charlottenburger 190-Quadratmeter-Wohnungen wäre viel Platz für studentische Untermieter. Also Genossen: Lasst mitwohnen! Sonst wird enteignet.

Schnell gebaut und auch im Winter bewohnbar: Scube-Park in Neukölln.


Containerdorf im Plänterwald

Im früheren Vergnügungspark plant ein Investor 400 Wohnplätze für Studenten in Containern. Wenn sich endlich ein Betreiber für den Spreepark findet, könnten dort auch Studentenjobs entstehen: vom Karussellbremser bis zum Zuckerwattedreher.

Mobilstudium

Hipster wissen: Wohnen ist total immobil. Heute wird unterwegs studiert. W-Lan ist überall, Kneipen kennen keine Sperrstunde. Geschlafen wird auf dem Notebook-Deckel, in der Bahn oder in den Semesterferien – bei Mutti zu Hause oder in Thailand am Strand.


Erschienen im Tagesspiegel vom 6. April 2013
Sonnabendbeilage MEHR BERLIN

Gott sei Dank, es war doch kein Permafrost!

Liebe Berliner Gartenfreunde, 

wir hatten es nicht mehr erwartet nach diesem finsteren Winter. Aber der Lenz streckt seine müden Glieder, langsam kommt er aus dem Knick. Es geht wieder los, also nichts wie raus: Endlich wieder Hammel schlachten im Tiergarten, die Aquakultur im Spreebogen ansetzen, das Saatgut aufs Tempelhofer Feld hinausstreuen, den Prinzessinnengarten düngen. Die Guerilla Gardening Saison ist eröffnet. Präsentiert die Krabber, Rechen, Unkrautstecher, Spaten und Spieße - auf zum fröhlichen Graben, Vertikutieren und Einpflanzen! Kein Frühlingssturm, kein Aprilregen, kein Hagel soll uns abhalten von unserem seligen Schöpferwerk: Der Natur auf jedem freien Flecken Erde dieser Stadt, auf jeder Brache zum ersprießlichen Durchbruch zu verhelfen, die zarten Knospen unseres Schaffens zur allergeilsten Blüte zu treiben. In diesem Sinne: Säet und setzet, heget und pfleget. Frisch auf, Naturvolk der Großstadt! Lass es fruchten! Oder kurz gesagt:



"Abgedichtet" in MEHR BERLIN, Tagesspiegel vom 6. April 2013

Freitag, 22. März 2013

Bürger, an die Latrinen!


Ein Aufruf zum Frühjahrsputz auf Berliner Schultoiletten

An der Grundschule unserer Tochter gibt es demnächst einen Projekttag zum Thema Hygiene. Lehrer und Erzieher hatten sich zu diesem Anlass überlegt, die Kinder der ersten Klassen die Toiletten putzen zu lassen. Die Eltern waren davon nicht so begeistert. Viele Kinder meiden die Toiletten in Berliner Schulen. Das hat die „German Toilet Organisation“ (GTO) unlängst bei einer Umfrage unter 290 Schülern an zwölf Berliner Oberschulen ermittelt. Elf Prozent gehen demnach in der Schule nie auf die Toilette, 64 Prozent „nur im Notfall“. Dreiviertel der Befragten finden Schul-WCs zu schmutzig. Die maroden Zustände förderten den Vandalismus, der alles noch schlimmer mache, erklärt die GTO, eine Berliner Hilfsorganisation, die mit Spendengeld die sanitäre Lage in Ländern der Dritten Welt verbessert: in Indien, Sri Lanka oder Sambia. Auch Berlin hätte die Hilfe bitter nötig. Auf mehrere hundert Millionen Euro schätzen Experten den Sanierungsbedarf an Berliner Schulen, 64 Millionen stehen dafür in diesem Jahr zur Verfügung. Das reicht nicht einmal für die notdürftigsten Arbeiten.
Wer etwas über den Bildungsstandort Berlin lernen will, sollte sich in den Schulklos umsehen. Natürlich werden die Schultoiletten regelmäßig von Reinigungspersonal gepflegt. Aber das darf möglichst wenig kosten, daher wird vielerorts nicht häufig genug sauber gemacht. Wenn sich Kinder deshalb weigern die Toiletten zu benutzen, werden Eltern ihnen wohl kaum zumuten wollen, die Klos saubermachen zu müssen.
Die Schulleitung an unserer Grundschule – sie liegt in Tempelhof-Schöneberg – hält das Toilettenproblem für unlösbar: Für zusätzliche Reinigungseinsätze fehle das Geld, heißt es. Die Elternvertretung ist darum auf die Idee gekommen, zum Hygiene-Tag Väter und Mütter zu einer Putz- und Renovierungsaktion einzuladen. Reinigungsmittel und etwas Farbe werden kostenfrei gestellt. Eine zusätzliche Reinigung im Jahr ist schließlich besser als keine.
Die Bildungspolitik dieser Stadt macht immer klüger. Man hat den Eindruck: Gerade weil das Geld fehlt, blüht die Kreativität. Davon könnte die Stadt auch andernorts profitieren. Warum werden Antragssteller in Behörden nicht dazu angehalten, während der Wartezeit die Toiletten zu reinigen? Dafür sollte man Anreize schaffen: Wer putzt, kommt früher ran, Anträge werden bevorzugt bearbeitet. Und was ist mit den städtischen Kliniken? Statt über multiresistente Keime und Staubmäuse unter den Betten zu meckern, könnten Angehörige von Patienten doch mal die Latexhandschuhe überstreifen und sich mit dem Wischmopp nützlich machen. Merkwürdig, dass solche Ehrendienste bisher nur Schulkindern und ihren Eltern angetragen werden.
Im gemeinsamen Leitbild für die Hauptstadtregion von Berlins Regierendem Klaus Wowereit und Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck heißt es: „Wir wollen, dass die Hauptstadtregion eine Vorbildfunktion bei der Modernisierung der Gesellschaft übernimmt. Ziel ist der aktivierende Staat, der die Menschen in ihrer Eigeninitiative unterstützt.“ In diesem Sinne zeigt Berlin, die Zukunftswerkstatt der Republik, wie die Zivilgesellschaft von morgen aussieht. Der Staat der Schuldenbremse lehrt Freiwilligeneifer und Demut – und drückt Steuerzahlern den Scheuerlappen in die Hand. Bürger, an die Latrinen!
Der Bezirk Tempelhof-Schöneberg hat übrigens gerade die Aufträge für die Reinigung von den Schulen neu ausgeschrieben. Die Zuschlagskriterien für „das wirtschaftlich günstigste Angebot“: niedrigster Preis (Gewichtung zwei Drittel), höchste Reinigungszeit (Gewichtung ein Drittel). Die Firma, die den Zuschlag erhielt, will dem Putzpersonal des Subunternehmens, das die Schulen bereits bisher gereinigt hat, künftig deutlich weniger Arbeitsstunden vergüten. An Berliner Schulen wird sich die sanitäre Lage wohl weiter an die in Entwicklungsländern angleichen. 

Dieser Beitrag im Tagesspiegel

Donnerstag, 21. März 2013

Meine Nazi-Vergangenheit


Für ein aufklärendes Gespräch mit der Generation der Hitler-Deutschen ist es zu spät. Vom Tätervolk leben inzwischen fast nur noch Verführte

Der ZDF-Dreiteiler „Unsere Mütter, unsere Väter“ ist versendet, zurückgeblieben ist die Illusion, das TV-Drama könnte endlich ein Gespräch anregen zwischen den Generationen, zwischen jenen, die Zeitzeugen des Nationalsozialismus waren, und den Nachgeborenen. Doch von wenigen Ausnahmen abgesehen, ist es dafür zu spät. Wer das Kriegsende 1945 als 18-Jähriger und mit halbwegs entwickeltem Erwachsenen-Bewusstsein erlebt hat, ist heute 86 Jahre alt oder bereits gestorben. Es ist die damalige Flakhelfer-Generation, es sind die Jungmädel und die Kindersoldaten – allenfalls die Verführten. Die Täter und ihre Komplizen, die feigen Mitwisser und verängstigten Mitläufer, sie sind nicht mehr. Gesprochen über das, was in der Nazizeit geschehen ist, über die eigene Verstrickung und Mitverantwortung, hat von ihnen in den vergangenen fast 70 Jahren kaum einer, geschweige denn über persönliche Schuld. Vielleicht bleibt eine Handvoll, die jetzt zum Reden bereit ist.
Mit den Opfern und ihren Nachkommen war das nicht viel anders, das Erlebte blieb tabu, das Schweigen der Überlebenden belastet noch nachfolgende Generationen. Psychiater sprechen vom Post-Holocaust-Trauma. Es ist weit verbreitet und wissenschaftlich eingehend untersucht. Vom Post-Nazi-Trauma unter den Nachkommen der Täter ist dagegen wenig bekannt.
Meine Großväter, beide Jahrgang 1908, sind länger als 30 Jahre tot. Beide waren Raucher. Mein Vater, geboren 1940, Flüchtlingskind aus Westpreußen, konnte noch nichts wissen und hat später nicht gefragt. Über den Krieg sprachen meine Großväter, Hans und Walter, trotzdem. Miteinander. Ich erinnere mich an meine Kindergeburtstage und die dichten Rauchschwaden, in denen die beiden an der Kaffeetafel verschwanden, wenn die alten Männer ihre Kriegserlebnisse austauschten. Walter ("Juno" ohne Filter), der im Marinehafen im französischen Brest stationiert war, sprach von Omelett und „Weng Rousch“ (Französisch für Rotwein), Hans (Brasil-Zigarren), der zunächst bei einer Versorgungseinheit der Wehrmacht und spät an die Ostfront und in Kriegsgefangenschaft geriet, erzählte von eimerweise Machorka, die es beim Russen zu rauchen gegeben habe. Harmlosigkeiten, Landser-Romantik. Das Verfänglichste, das Walter, der Vater meiner Mutter, gelernter Anstreicher, später Postbeamter und Quartalssäufer, immer mal wieder erzählte, war, dass er an seinem Geburtstag, dem 19. April, mit seinen Freunden regelmäßig reingefeiert hätte – in den „Führergeburtstag“. In welchen Kreisen er vermutlich gefeiert hatte, erfuhr ich erst viel später. Großvater Hans, passionierter Jäger, der nach den mageren Kriegsjahren schnell an Umfang zugelegt hatte und schon dadurch etwas unnahbar geworden war, reagierte nur einmal auffallend dünnhäutig: als sein Enkel Cowboy spielte und eine Plastikpistole auf ihn richtete. „Niemals auf Menschen zielen“, herrschte er mich an. „Auch nicht mit Spielzeugwaffe.“
Über die letzten vier Jahrzehnte wurden dem deutschen Fernsehpublikum viele Anstöße zu Gesprächen über die Hitler-Diktatur und ihre Folgen gegeben, angefangen mit der US-amerikanischen Serie „Holocaust“, die 1979 das Schicksal der jüdischen Familie Weiß in die Wohnzimmer brachte und die Frage „Was habt ihr gewusst?“ gesellschaftsfähig machte. Je länger Krieg und  Verbrechen zurücklagen, desto größer durfte der Kreis der Opfer werden: Ob Flucht und Vertreibung („Die Gustloff“, 2008; „Die Flucht“ 2007), Vergewaltigungen durch Rotarmisten („Anonyma – eine Frau in Berlin“, 2008) oder die Bombennächte („Dresden“, 2006) – die Moral all dieser Erzählungen lautet: Auch die Deutschen haben gelitten. „Unsere Mütter, unsere Väter“ hinterlässt schon mit dem kollektivistischen Titel den verstörenden Eindruck, dass im System des totalitären Terrors niemand eine Wahl hatte, dass Widerstand sinnlos war. Inzwischen ist eine solche Darstellung – so falsch sie sein mag – auch deshalb konsensfähig geworden, weil kaum noch ein Zeitzeuge lebt, der mit der Überzeugungskraft eigener Erfahrung widersprechen könnte.
Denn von denjenigen, die noch leben, kann ernsthaft keine Antwort auf die Frage erwartet werden, warum sie es geschehen ließen. Sie waren Kleinkinder, als Hitler die Macht übernahm. Für die Pimpfe, die Jungmädels, für die Volkssturm-Jugend, das letzte Aufgebot des Krieges, gilt die Unschuldsvermutung.
So bleibt am Ende doch wieder allenthalben das Schweigen.
Meine Großväter, Jahrgang 1908, hatten dagegen die Wahl. Und beide entschieden sich für Hitler, freiwillig. Sie reihten sich ein in die Kolonnen hinter der Hakenkreuzfahne, wie Millionen andere, und sie marschierten mit, lange genug, um mitschuldig zu werden. Das war zu ihren Lebzeiten nie ein Thema, schon gar nicht beim Kindergeburtstag.
Bis heute gibt es nur wenige, aber dafür deutliche Hinweise auf die Nazi-Vergangenheit meiner Großväter. Als meine Mutter 2008 starb und der Pfarrer zu uns nach Hause kam, um seine Predigt zu ihrer Beerdigung vorzubereiten, erzählten ihre Schwestern beiläufig, dass ihr Vater, mein Großvater Walter, bereits 1937 – zwei Jahre vor Kriegsbeginn – zur Wehrmacht eingezogen und längere Zeit weg gewesen sei. Der Pfarrer erklärte, dass er das häufiger höre. Im Landkreis Ammerland (nordwestlich von Bremen) hätten sich viele Männer freiwillig zur „Legion Condor“ gemeldet, mit der Hitler die Franco-Putschisten im spanischen Bürgerkrieg unterstützte.
Von der braunen Gesinnung meines Großvaters Hans erfuhr ich 2010 bei einem Familientreffen in Kanada. Ein Großonkel, ein frommer Mennoniten-Prediger mit weißem Bart, damals 92 Jahre alt, erzählte mir, dass Hans, sein „Lieblingscousin“ und dessen Vater, schon lange vor 1933 „begeistert vom Hitler gewesen und ständig in Braunhemden herumgelaufen“ seien. Später habe sich das allerdings geändert, sagte mein Onkel. Wann das war, wusste er nicht mehr zu sagen. Ich habe noch nicht weiter geforscht. Vielleicht will ich das alles so genau auch gar nicht wissen.

Dieser Beitrag im Tagesspiegel

Freitag, 8. März 2013

Rote Rosen


Damen, aufgepasst: Die Pankower SPD hat einen stacheligen Charmebolzen zum Direktkandidaten gekürt


Sehr aufmerksam, dieser Herr Mindrup von der SPD. Der frisch gekürte Pankower Direktkandidat für die Bundestagswahl ließ am Freitag rote Rosen verteilen – zum internationalen Frauentag (charmant, charmant!) und, na ja, um durch die Blume auch ein bisschen auf sich selbst und die Pankower Sozialdemokratie aufmerksam zu machen: Aufgepasst, liebe Damen, am 22. September Mindrup wählen!
Moment mal, Mindrup? Klaus Mindrup? Ist das nicht der Mann, der erst vor gut zwei Wochen auf der Kreisvertreterversammlung zum Direktkandidaten bestimmt wurde – und eine Mehrheit gegen das Votum einer Mitgliederbefragung organisiert hatte? Die Parteibasis im Bezirk hatte zuvor Leonie Gebers, Referentin für Arbeit und Wirtschaft in der SPD-Bundestagsfraktion, als Direktkandidatin favorisiert – eine Frau. Doch dieses Votum war rechtlich nicht bindend. Ganz schön link vom Herrn Mindrup. Tja, aber Klaus Mindrup ist eben ein Linker, vom Parteiflügel her gesehen, der hat Gewicht im Bezirk. Und ein guter Netzwerker ist er auch. Herr Mindrup hätte jeden Konkurrenten besiegt. Auch Wolfgang Thierse hat er schon aus seinem Wahlkreis verdrängt. Sorry, aber dass diese Gebers ausgerechnet eine Frau ist, dafür kann Mindrup ja nun wirklich nichts. 

Dieser Beitrag im Tagesspiegel

"Berliners fight for Hitler's wall!"


#Eastsidegallery - "Das Ausmaß des Protests hat mich überrascht." Bürgermeister Franz Schulz (Grüne) bleibt dabei: Der Mauerstreifen am Friedrichshainer Spreeufer soll unbebaut bleiben und als authentischer Gedenkort erhalten werden. Das Interview im Tagesspiegel


>>

Ach, liebe Leserinnen und Leser, wieder entzweit die Mauer die Menschen in dieser von Gentrifizierung geschundenen und wegen unfertiger Großprojekte verhöhnten Stadt. Der Kampf an der ehemaligen Zonengrenze geht in eine neue Runde. Diesmal zum Glück ohne Waffen und Schießbefehl. Vielleicht wird die Auseinandersetzung ja gerade deshalb so erbittert geführt, weil die Abschreckung fehlt. Früher jedenfalls war der Todesstreifen demofreie Zone.
In den vergangenen Tagen haben wir gelernt, dass der Betonwall ein Kulturdenkmal geworden ist. Margot Honecker wird es in ihrem chilenischen Exil mit Genugtuung erfüllen. Beim Protest gegen den Mauerdurchbruch an der East Side Gallery wuchs zusammen, was nicht zusammenpasst. Mediaspree-Gegner, Hipster, Tourismuswerber und Denkmalschützer gingen gemeinsam demonstrieren – mit internationaler Strahlkraft. Auch in Amerika machte das Schlagzeilen: „Berliners fight for Hitler’s wall“, schrieb der „Boston Globe“ oder irgendeine andere texanische Zeitung. Egal. Aber wie denken die normalen Berlinerinnen und Berliner über den Streit? Wir haben uns umgehört.

Schöneberg, 11.30 Uhr: Axel O. (46), Coiffeur, in Eile am Winterfeldtplatz: „Ochnee, nicht zu politischen Fragen. Ich muss jetzt Schrippen holen. Schüssi.“
Geteiltes Schicksal. Grenzhund Bello und sein Dienstherrchen
von der NVA sind seit 23 Jahren arbeitslos. Forum DDR-Grenze

Hellersdorf, 12 Uhr: Gertrud M. (92), auf einer Bank im Liberty Park: „Dafür sind wir ’89 nicht auf die Straße gegangen, dass die Mauer stehen bleibt. Ich sowieso nicht – als Frau vom Minister.“

Lichtenberg, 12.25 Uhr: Geschichtslehrer Günter Z. (58), im zweigestreiften Trainingsanzug vor dem Sportforum Hohenschönhausen. „Bloß nicht noch mehr Löcher. Kommen schon genug rüber, Studenten und Zeugs. Wird alles nur teurer.“ Schaut die Straße raufrunter und kommt ganz nah ran. „Wenn’s nach mir geht: Wieder aufbauen die Mauer, aber diesmal sechs Meter hoch - mindestens.“

Wilmersdorf, 13.05 Uhr: Benny P. (15), auf dem Schulhof des Goethe-Gymnasiums, konzentriert sich auf sein Handy-Ballerspiel: „Was für ’ne Mauer…? Ach Scheiße, jetzt bin ich tot“.
Reinickendorf, 16.40 Uhr: Ernst-Friedrich B. (74), emeritierter Germanistik-Dozent aus Heiligensee: „Wissen Sie, Iest Seid Gällerie, da sage ich Ihnen gleich gar nichts dazu. Die Verenglischung der Schandmauer halte ich für eine Beleidigung der deutschen Sprache – und unserer West-Alliierten.“

Treptow, 18 Uhr: Vor dem Herrenrasse-Ausstatter „Hexogon“ in Schöneweide. Pascal H. (23) versteht die Frage nicht. „Welche Mauer? Scheiße, du bist gleich tot, Zecke.“


Spandau, 19.10 Uhr: Walter P. (88), Bierstübchen Schönwalder Straße. : „Wat? Die Grenze is’ uff? Mach keene Witze.“


Erschienen im Tagesspiegel vom 9. März 2013, MEHR BERLIN