Freitag, 5. April 2013

Wohnen ist so immobil


Ach, liebe Leserinnen und Leser, das große Drama dieser Stadt ist, dass Glanz und Elend so nah beieinanderliegen. Mitunter fällt es schwer, das eine vom anderen zu unterscheiden. In anderen Großstädten wie Gelsenkirchen oder Kinshasa würden sich die Menschen über ein wenig Gentrifizierung (von engl. gentry: Adel), also den Zuzug von Wohlhabenden und die Aufwertung von Stadtteilen, freuen. In Berlin bleibt man lieber unter sich, alles soll besser bleiben, wie es ist, auch auf die Gefahr hin, dass bald wieder Balkone abstürzen. Die Folgen: Wohnungsnot und Preisanstieg. Es trifft alle: Alte, Arme, Alleinerziehende – auch Minderheiten wie Familien mit Kindern. Sogar die Begabten, die künftigen Eliten. Allein 900 Bewerber für einen Wohnplatz stehen vor Beginn des neuen Semesters auf der Warteliste des Berliner Studentenwerks. Neue Wohnheime sollen gebaut werden. Doch bis sie stehen, ist Kreativität gefragt. Hey, Kreativität ist unser zweiter Vorname! Wir hätten ein paar Ideen, wo Studierende schnell und günstig unterkommen könnten:

Campus Tempelhof

Das größte Gebäude der Stadt steht größtenteils leer, teilweise im Rohbau. Die US-Alliierten hinterließen am ehemaligen Flughafen Turnhallen, Cafeterias, Gemeinschaftssäle. Mit ein paar hundert Etagenbetten und gutem Willen ist hier in wenigen Monaten ein prima Studentendorf gestemmt, mit U- und S-Bahn-Anschluss – und in ein paar Jahren steht gleich nebenan die neue Landesbibliothek.

Kommune 2.0

Sie waren die ersten Gentrifizierer in Berlin: Auf der Straße riefen sie nach Ho Chi Minh, zu Hause richteten sie sich teuer ein. Mit den 68ern kamen italienisches Design, gut sortierte Weinläden, Edelgastronomie. Inzwischen sind sie Architekten, Anwälte oder frühpensionierte Lehrer; die Kinder sind aus dem Haus und in ihren Charlottenburger 190-Quadratmeter-Wohnungen wäre viel Platz für studentische Untermieter. Also Genossen: Lasst mitwohnen! Sonst wird enteignet.

Schnell gebaut und auch im Winter bewohnbar: Scube-Park in Neukölln.


Containerdorf im Plänterwald

Im früheren Vergnügungspark plant ein Investor 400 Wohnplätze für Studenten in Containern. Wenn sich endlich ein Betreiber für den Spreepark findet, könnten dort auch Studentenjobs entstehen: vom Karussellbremser bis zum Zuckerwattedreher.

Mobilstudium

Hipster wissen: Wohnen ist total immobil. Heute wird unterwegs studiert. W-Lan ist überall, Kneipen kennen keine Sperrstunde. Geschlafen wird auf dem Notebook-Deckel, in der Bahn oder in den Semesterferien – bei Mutti zu Hause oder in Thailand am Strand.


Erschienen im Tagesspiegel vom 6. April 2013
Sonnabendbeilage MEHR BERLIN

1 Kommentar:

  1. Wichtiges Thema...hier verschieben sich gerade Besitzverhältnisse dramatisch. Schade!

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