Freitag, 24. Mai 2013

Ich stehe auf der Liste



Extremisten veröffentlichen im Internet Berliner Adressen von Wohnungseigentümern, Investoren und Politikern – und rufen zu Gewaltaktionen auf. Die Bedrohung wirkt wie ein Gift auf das freie Lebensgefühl in dieser Stadt


Anleitung zu "kreativen Aktionen": Piktogramme auf der Website

Ich bin ein Angriffsziel. Ein potenzielles Opfer. Das ist ein mieses Gefühl. Das Haus, in dem ich wohne, steht auf der Abschussliste, genauer: auf der „Berlinerliste – MieterInnen stressen zurück“. Eine Internetseite, die „für kreative Aktionen gegen Verdrängung“ wirbt. Darunter dutzende Adressen: Neubauprojekte, Wohnungsbaugesellschaften, Investoren, Immobilienunternehmen, Makler, Agenturen und Verbände, Polizei- und Justizbehörden, Jobcenter, Senatsverwaltungen, Abgeordnetenhaus, Rotes Rathaus. Sogar die „Stiftung Zukunft Berlin“ steht auf der Liste.
Wie solche Aktionen aussehen könnten, zeigen sieben Piktogramme in gelben Kreisen: ein Pinsel; ein Bus, aus dem sich Fahnen schwenkende Demonstranten herauslehnen; eine Sprühdose; eine brennende Mülltonne; Farbkleckse an der Wand; ein Schraubenschlüssel gekreuzt mit einem Schraubenzieher; eine Computertastatur. Was lässt sich damit anstellen? Alles Mögliche vermutlich, der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Gesucht sind offenbar Leute, die den Mut haben, der Anstiftung Taten folgen zu lassen. Davon finden sich genug, wie unter dem Link „Aktionen“ nachzulesen ist. Eine Sammlung von Bekennerschreiben zu Anschlägen. Allein im Mai kam einiges zusammen: Die „Autonome Gruppe-Safaritour“ rühmt sich, in Kreuzberg das frisch gegossene Betonfundament für einen „Luxusneubau“ geflutet zu haben. Nächtliche „Besuche“ auf Baustellen, Brandstiftungen und Farbbeutelattacken, verhinderte Zwangsräumungen, Angriffe auf Jobcenter, die SPD-Zentrale in Wedding („verantwortlich für die ganze Hartz4-Scheiße“), eine Farbsprüherei an der Fassade des Landgerichts: „Zwangsräumung tötet!“
Auf der nach oben offenen Skala der Eskalation ist Luft genug für jeden Irren, der zu mehr entschlossen ist. Bei unserem Kinderarzt, der eine Neubauwohnung in einer Parallelstraße bewohnt, flogen Steine durchs Fenster - und landeten im Kinderzimmer. Die Botschaft ist angekommen: Wir sollen uns nicht sicher fühlen. Wir können die nächsten sein.
Wir, das sind meine Frau und ich, zwei Kinder, sechs und zehn. Ich lebe seit 23 Jahren in Berlin und habe nie jemanden verdrängt. Wir haben hier eine Familie gegründet, wir arbeiten hier, wir lieben diese Stadt. Und ja, uns geht es vergleichsweise gut, wir gehören wohl zu den Besserverdienenden. Wir haben uns eine Eigentumswohnung gekauft – auf Kredit. Für den Neubau, in dem wir wohnen, musste kein Mieter weichen. Wir fühlen uns unschuldig.
Aber wozu soll ich mich rechtfertigen? Gegen Terror nutzen keine rationalen Argumente. Wer versucht, sich herauszureden, ist schon eingeschüchtert. Angst, das ist für Extremisten die halbe Miete.
Ich habe Strafanzeige gestellt – wegen Bedrohung und Anstiftung zu Straftaten. Gegen Unbekannt. Die Opfer haben Namen, die Täter nicht. Die linken Webmaster operieren im Schutzraum der Anonymität, wie ihre zahlreichen Mittäter, die auf der Seite neue Angriffsziele vorschlagen, sich mit bewaffneten Gruppen solidarisch erklären, zum „Kampf der Lohnarbeit als Sklaverei!“ oder zur „Sabotage der kapitalistischen Stadt“ aufrufen.
Was haben wir damit zu tun? In unserem Haus wohnen Italiener, Franzosen, Holländer, Deutschrumänen, Linksliberale und Konservative, Schwule, Atheisten und Juden. Ich glaube, es sind drei Juden. Das reicht nicht, um Polizeischutz zu beanspruchen. Sollen wir Brandwachen an unseren Mülltonnen aufstellen? Oder nach München umziehen?
Bloß nicht übertreiben! Nicht bange machen lassen! Ist ja nur eine kleine Minderheit, die uns bedroht, und noch kleiner ist die Gruppe militanter Extremisten. Aber es ist eine mächtige Minderheit, die längst bestimmt, wo Guggenheim kein Lab errichtet, wo Investoren bauen dürfen und Neuberliner besser nicht schwäbisch schwätzen. Sie vergiftet das Lebensgefühl in einer Stadt, die sich so gerne als weltoffen und tolerant ausgibt.
Und wo immer ihre Drohungen Wirkung zeigen, gibt die Stadt ein Stück Freiheit preis. Das geht uns alle an. Ich höre sie schon höhnen, die autonomen Webmaster: Jetzt wird er pathetisch und ruft nach Verstärkung! Stimmt schon. Es ist ein beschissenes Gefühl, zum Opfer erklärt zu werden.

Erschienen im Tagesspiegel vom 25.05.2013Sonnabendbeilage MEHR BERLIN 

Mittwoch, 15. Mai 2013

Angela Merkel und die DDR - eine deutsche Geschichte



Wie viel Gefühl entscheidet in diesem Wahlkampf? Was zählt der Mensch hinter den Kandidaten in Prozentpunkten? Mit ihren Biografien, Haltungen, ihren Widersprüchen? Angela Merkel, die Bundeskanzlerin mit DDR-Vergangenheit, war bei den Jungen Pionieren und in der FDJ, wie fast alle. In der staatstragenden SED war sie nie, aber auch eine Oppositionelle wurde sie erst im Herbst 89. Wie die Mehrheit der DDR-Bürger. Die Pfarrerstochter und Einser-Abiturientin war unauffällig – und auffällig genug, dass sie die Stasi beobachtete. Sie wollte studieren. Also fügte sie sich ins System. Ihre Dissertation schloss sie mit „Sehr gut“ ab, das Pflichtfach Marxismus-Leninismus nur mit „Genügend“. Dass sie in der subalternen Funktion als FDJ-Kulturreferentin auch für Agitation und Propaganda zuständig gewesen sein soll, mag sein, sagt sie. Wenn es so war, „wird man auch damit leben können“.
Eine ehrliche Antwort – in Ostdeutschland versteht sie jeder. Dort hat man gelernt, unter widrigen Umständen zu leben, vor der Wende und danach. Auch das Leben in der freiheitlichen Demokratie verlangte Anpassung, wer wüsste das besser in diesem Land als ehemalige DDR-Bürger?
Das ist ein Erfahrungsvorsprung, der nicht einzuholen ist. Schon gar nicht durch Besserwisserei. Wer klug ist, hört besser zu, als vorschnell zu urteilen. Der SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück ist klug genug, sich in dieser Debatte zurückzuhalten. Denn im Mittelpunkt steht die Frage nach dem menschlichen Maß, das wir anlegen, um Biografien in unterschiedlichen Systemen und Machtgefügen gerecht zu bewerten, zumal derjenigen, die uns regieren wollen. Man wüsste gern, mit welchen allzu menschlichen Bekenntnissen Steinbrück noch punkten könnte, um in vergleichbarer Art an Kontur, an Glaubwürdigkeit und Authentizität zu gewinnen.
Die neueste Auflage der Ost-West-Debatte, die sich an der DDR-Vergangenheit der ersten Frau im Staat aufhängt, ist nicht wahlentscheidend. Aber Angela Merkel kann sie nützen. Mit ihrer entspannten Haltung zur eigenen Geschichte, ihrem gelassenen Umgang mit der Erfahrung der Ambivalenz, mit ihrem freimütigen Bekenntnis zu einer Vergangenheit im stillschweigenden Widerspruch, der nicht zum Widerstand wurde, gewinnt sie Profil. Es ist keine Heldengeschichte, sondern eine Geschichte vom gewöhnlichen Mittelmaß, eine, die mehrheitsfähig zur Identifikation taugt. Ihre Botschaft: Man konnte in der DDR leben, man durfte dort glücklich, sogar erfolgreich sein, ohne sich unentschuldbar in das repressive System zu verstricken. Dies anzuerkennen, macht die DDR keinen Deut besser als sie war und mindert nicht den Respekt, den diejenigen verdienen, die mutiger waren und dem Regime die Stirn boten.
Immerhin: Knapp ein Vierteljahrhundert musste ins Land gehen, ehe der Blick auf die DDR und ihre Bürger solch menschliche Milde erlaubte. Der Aktenstaub über dem Kampfplatz der unmittelbaren Aufarbeitung hat sich gelegt, die alten Seilschaften sind gekappt, die Stasi-Spitzel kaltgestellt – die Nebenwirkungen der bitteren Therapie, die unter anderem die SED-Nachfolgepartei als Identitätsstifterin für jene Ostdeutschen erstarken ließ, die sich vom Kapitalismus überrannt fühlten, lassen langsam nach.
Auch die Union hat eine Rote-Socken-Kampagne heute nicht mehr nötig. Angela Merkel, die Kanzlerin aus Templin, lädt zum differenzierten Blick auf die ostdeutsche Teilerfahrung ein. Sie gehört zur gesamtdeutschen Identität, doch es gibt noch viel zu sagen, bevor es sich ins kollektive Gedächtnis der Nation einprägt. Die Geschichten müssen erzählt werden, damit sie uns verbinden können. Es braucht immer noch Mut dazu, vom Leben in der DDR zu erzählen. Und Geduld zuzuhören. Aber es lohnt sich. Es geht nämlich gut aus: mit einer friedlichen und erfolgreichen Revolution. Eine seltene deutsche Geschichte, an der auch Angela Merkel ihren Anteil hat.

Montag, 6. Mai 2013

Draußen nur Kannen!


Sobald die Sonne scheint, ist auf Gehwegen vor Lokalen kaum noch ein Durchkommen. Eine einzige Fußgängelei! Dieser Berlinblockade ist selbst mit alliierten Kiezstreifen nicht Herr zu werden. Da hilft nur Abschreckung.



Foto: Kai-Uwe Heinrich
Ich wohne nicht mehr in der Schlesischen Straße. Wir sind vor zwei Jahren weggezogen, gerade noch rechtzeitig. Das sagen alle, denen ich erzähle, dass wir da mal gewohnt haben. Seid froh, dass ihr weggezogen seid. Da kann man nicht mehr wohnen. Das ist nur noch eine einzige Partymeile. Sagen alle. Abends einfach nach Hause kommen? Unmöglich. Ständig blockieren Gäste von der Kneipe nebenan den Hauseingang. Dürfen wir mal durch? Unwilliges Pohälftenrücken. Danke. Morgens der Tritt in Scherben – wenn es gut läuft. Läuft es schlecht, liegt noch eine Alkleiche vor der Tür und schläft ihren Rausch aus.
Und jetzt geht das wieder los. Sobald es Frühling ist, stellen sie ihre Tische, Bierbänke und Stühle raus, fahren ihre Markisen aus, grenzen ihr Territorium mit Blumenkübeln ab und blockieren die Transitwege dieser Stadt. Passanten werden zu Hindernisläufern. Es ist eine einzige Fußgängelung.
Leute, versteht mich nicht falsch! Ich sitze auch gerne in der Sonne, esse an lauen Abenden mal eine Pizza draußen und trinke dazu ein Bier, oder zwei. Ich habe nichts gegen Gastwirtschaft. Kneipenbesitzer bezahlen Gebühren für die Sondernutzung öffentlichen Straßenlandes, davon profitieren wir alle. Aber es muss doch im vernünftigen Maß bleiben. Es heißt schließlich Gehweg und nicht Sitzweg.
Von April bis Oktober ist an vielen Orten dieser Stadt kein Durchkommen mehr. Ob in Prenzlauer Berg, in Friedrichshain, Kreuzberg oder Mitte – in den Zonen des ausufernden Vergnügens fühlt man sich auf Bürgersteigen wie ein Störenfried, der durch fremde Esszimmer marschiert. Es ist mir unangenehm, wenn Gäste mit den Stühlen rücken müssen, ehe ich passieren kann. Und dass ich in jedem Moment darauf gefasst sein muss, dass eine Bedienung mit vollem Tablett zur Tür herausgeschossen kommt und über mich stürzt.
In § 25 der Straßenverkehrsordnung heißt es: „Wer zu Fuß geht, muss die Gehwege benutzen. Auf der Fahrbahn darf nur gegangen werden, wenn die Straße weder einen Gehweg noch einen Seitenstreifen hat.“ Der Gehweg dient dazu, auf zwei Beinen von Punkt A nach Punkt B zu gelangen. Es ist ein transitorischer Ort, eine Passage. Zu Fuß gehen ist ein Menschenrecht. Kann ja wohl nicht sein, dass ich mich aufs Fahrrad oder ins Auto setzen muss, um ungehindert durch die Stadt zu kommen.
Und, Pardon, wenn ich auf Paragrafen herumreite: Nach § 11 des Berliner Straßengesetzes ist jede Benutzung öffentlichen Straßenlandes, „die über den Gemeingebrauch hinausgeht“ eine genehmigungspflichtige „Sondernutzung“. Die Erlaubnis dazu wird erteilt, „wenn überwiegende öffentliche Interessen der Sondernutzung nicht entgegenstehen“. Kurz: Fußgänger haben Vorrang. 
Die Wegelagerei nervt. Was soll daran Vergnügen oder Erholung sein, im tosenden Verkehr zu hocken und Passanten den Weg zu versperren? Gegen diese Unart ist der Coffee to go ein kultureller Fortschritt. In Berlin gibt es Platz genug, um sich unter freiem Himmel zu verköstigen – in Biergärten, auf Plätzen, in Strandbars und Hinterhöfen, auf Grillflächen oder beim Picknick im Park. Frische Luft und schöne Aussichten gibt’s gratis dazu. Stattdessen belagern die Massen die Trottoirs bis an den Straßenrand, inhalieren Autoabgase und verbreiten Stress. Anwohner werden um ihre Feierabendruhe gebracht, Kinder finden keinen Schlaf und versagen in der Schule, Polizei rückt an und ab, in den Umweltämtern stapeln sich die Anzeigen wegen Lärmbelästigung.
Jahr für Jahr steigt die Zahl der Sondernutzungen, stehen mehr Bierbänke, Tische und Stühle vor den Lokalen. Dieser Berlinblockade ist selbst mit alliierter Macht aller Kiezstreifen nicht Herr zu werden. Da hilft nur Abschreckung. Ein kräftiger Aufschlag bei den Nutzungsgebühren für Straßenland wäre ein Anfang – dazu am besten eine Selbstverpflichtung der Gastronomie, nach dem Vorbild der fast vergessenen Tradition: Draußen nur Kännchen! Schluss mit dem stundenlangen Genippe am kalten Cappuccino oder pisswarmen 0,3-Pils. Wer auf dem Gehsteig zecht, der blecht – und bekommt pitcher-, maß- oder eimerweise serviert. Draußen nur Kannen! Das erspart dem Personal Laufwege und füllt dem Wirt die Kasse. Und, liebe Leute, rückt zusammen! Macht den Gang frei!

Erschienen im Tagesspiegel vom 4. Mai 2013
Sonnabendbeilage MEHR BERLIN

Zahn der Zeit


Der Frühling nährt die Hoffnung: Es wächst immer etwas nach. So lange noch Leben in der Wurzel, die Saat nicht ganz verdorben ist, kann Neues entstehen. Das sagen auch Paartherapeuten. Nur bei Zähnen (und bei Männern auch bei den Haaren) sind natürliche Grenzen gesetzt. Zwei Wochen lang hat Greta, unsere Sechsjährige, an ihrem ersten Wackelzahn laboriert. In der Mathestunde hatte sie ihn endlich in der Hand. Abends saß sie stolz am Tisch und hatte den Milchzahn auf einem Unterteller neben ihrem Gedeck platziert. Der Zahn sollte wohl noch einmal beim Essen dabei sein, bevor er der Zahnfee überantwortet werden sollte.
Viel lieber wollte Greta den kleinen Schneidezahn aber behalten: „Ich könnte die Zähne sammeln und später eine Halskette daraus machen.“ Die Idee hörte sich so ausgereift an, dass sie ihr vermutlich ihre große Schwester eingeflüstert hat. Als Vater wünschte ich mir, meine zehnjährige Tochter würde sich mehr für die eigenen Zähne engagieren. Bei ihr sind es nämlich schon die zweiten, und wir bekommen beim Zahnarzt jedes Mal zu hören, dass sie sie nicht richtig putzt.
Dabei hat Emma hat einen deutlich ausgeprägteren Hang zum Bewahrenden als Greta. Eine echte Berlinerin. Jede Abrissbaustelle auf dem Schulweg rührt ihr Herz. Zurzeit betrauert sie das IBA-Haus am Lützowplatz, das gerade in Trümmer gelegt wurde, und den alten Güterschuppen an den Yorckbrücken, der zuletzt ein Möbellager beherbergte und jetzt zum Schuttberg zusammengekehrt wird. Dass dort bald etwas Neues entsteht, tröstet Emma nicht.
Berlin ist eine Stadt der Lücken und Prothesen. „Schau mal da, die Gedächtniskirche. Die Berliner nennen sie Hohler Zahn“, erzähle ich Emma. „Vielleicht fällt der auch bald aus, wenn das ein hohler Zahn ist“, sagt Greta. Da fällt mir ein: Ich müsste längst mal wieder zur Prophylaxe. | Stephan Wiehler


Dieser Beitrag ist in Zitty 10/2013 erschienen