Wie viel Gefühl entscheidet in diesem Wahlkampf? Was zählt
der Mensch hinter den Kandidaten in Prozentpunkten? Mit ihren Biografien,
Haltungen, ihren Widersprüchen? Angela Merkel, die Bundeskanzlerin
mit DDR-Vergangenheit, war bei den Jungen Pionieren und in der FDJ, wie fast
alle. In der staatstragenden SED war sie nie, aber auch eine Oppositionelle
wurde sie erst im Herbst 89. Wie die Mehrheit der DDR-Bürger. Die Pfarrerstochter und
Einser-Abiturientin war unauffällig – und auffällig genug, dass sie die Stasi beobachtete.
Sie wollte studieren. Also fügte sie sich ins System. Ihre
Dissertation schloss sie mit „Sehr gut“ ab, das Pflichtfach
Marxismus-Leninismus nur mit „Genügend“. Dass sie in der subalternen Funktion
als FDJ-Kulturreferentin auch für Agitation und Propaganda zuständig gewesen
sein soll, mag sein, sagt sie. Wenn es so war, „wird man auch damit leben
können“.
Eine ehrliche Antwort –
in Ostdeutschland versteht sie jeder. Dort hat man gelernt, unter widrigen
Umständen zu leben, vor der Wende und danach. Auch das Leben in der
freiheitlichen Demokratie verlangte Anpassung, wer wüsste das besser in diesem
Land als ehemalige DDR-Bürger?
Das ist ein
Erfahrungsvorsprung, der nicht einzuholen ist. Schon gar nicht durch
Besserwisserei. Wer klug ist, hört besser zu, als vorschnell zu urteilen. Der
SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück ist klug genug, sich in dieser Debatte zurückzuhalten.
Denn im Mittelpunkt steht die Frage nach dem menschlichen Maß, das wir anlegen,
um Biografien in unterschiedlichen Systemen und Machtgefügen gerecht zu
bewerten, zumal derjenigen, die uns regieren wollen. Man wüsste gern, mit
welchen allzu menschlichen Bekenntnissen Steinbrück noch punkten könnte, um in vergleichbarer Art an
Kontur, an Glaubwürdigkeit und Authentizität zu gewinnen.
Die neueste Auflage der
Ost-West-Debatte, die sich an der DDR-Vergangenheit der ersten Frau im Staat
aufhängt, ist nicht wahlentscheidend. Aber Angela Merkel kann sie nützen. Mit ihrer entspannten Haltung zur eigenen Geschichte,
ihrem gelassenen Umgang mit der Erfahrung der
Ambivalenz, mit ihrem freimütigen Bekenntnis zu einer Vergangenheit im
stillschweigenden Widerspruch, der nicht zum Widerstand wurde, gewinnt sie Profil. Es ist keine
Heldengeschichte, sondern eine Geschichte vom gewöhnlichen Mittelmaß, eine, die mehrheitsfähig zur Identifikation taugt. Ihre Botschaft: Man konnte in der DDR leben, man durfte dort
glücklich, sogar erfolgreich sein, ohne sich unentschuldbar in das repressive System zu
verstricken. Dies anzuerkennen, macht die DDR keinen Deut besser als sie war
und mindert nicht den Respekt, den diejenigen verdienen, die mutiger waren und
dem Regime die Stirn boten.
Immerhin: Knapp ein
Vierteljahrhundert musste ins Land gehen, ehe der Blick auf die DDR und ihre
Bürger solch menschliche Milde erlaubte. Der Aktenstaub über
dem Kampfplatz der unmittelbaren Aufarbeitung hat sich gelegt, die alten Seilschaften sind
gekappt, die Stasi-Spitzel kaltgestellt – die Nebenwirkungen der bitteren
Therapie, die unter anderem die SED-Nachfolgepartei als Identitätsstifterin für
jene Ostdeutschen erstarken ließ, die sich vom Kapitalismus überrannt fühlten,
lassen langsam nach.
Auch die Union hat eine
Rote-Socken-Kampagne heute nicht mehr nötig. Angela Merkel, die Kanzlerin aus
Templin, lädt zum differenzierten Blick auf die ostdeutsche Teilerfahrung ein.
Sie gehört zur gesamtdeutschen Identität, doch es gibt noch viel zu sagen, bevor es sich ins kollektive Gedächtnis der Nation einprägt. Die
Geschichten müssen erzählt werden, damit sie uns verbinden können. Es braucht
immer noch Mut dazu, vom Leben in der DDR zu erzählen. Und Geduld
zuzuhören. Aber es lohnt sich. Es geht nämlich gut aus: mit einer friedlichen
und erfolgreichen Revolution. Eine seltene deutsche Geschichte, an der auch Angela Merkel ihren Anteil hat.
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