Mittwoch, 15. Mai 2013

Angela Merkel und die DDR - eine deutsche Geschichte



Wie viel Gefühl entscheidet in diesem Wahlkampf? Was zählt der Mensch hinter den Kandidaten in Prozentpunkten? Mit ihren Biografien, Haltungen, ihren Widersprüchen? Angela Merkel, die Bundeskanzlerin mit DDR-Vergangenheit, war bei den Jungen Pionieren und in der FDJ, wie fast alle. In der staatstragenden SED war sie nie, aber auch eine Oppositionelle wurde sie erst im Herbst 89. Wie die Mehrheit der DDR-Bürger. Die Pfarrerstochter und Einser-Abiturientin war unauffällig – und auffällig genug, dass sie die Stasi beobachtete. Sie wollte studieren. Also fügte sie sich ins System. Ihre Dissertation schloss sie mit „Sehr gut“ ab, das Pflichtfach Marxismus-Leninismus nur mit „Genügend“. Dass sie in der subalternen Funktion als FDJ-Kulturreferentin auch für Agitation und Propaganda zuständig gewesen sein soll, mag sein, sagt sie. Wenn es so war, „wird man auch damit leben können“.
Eine ehrliche Antwort – in Ostdeutschland versteht sie jeder. Dort hat man gelernt, unter widrigen Umständen zu leben, vor der Wende und danach. Auch das Leben in der freiheitlichen Demokratie verlangte Anpassung, wer wüsste das besser in diesem Land als ehemalige DDR-Bürger?
Das ist ein Erfahrungsvorsprung, der nicht einzuholen ist. Schon gar nicht durch Besserwisserei. Wer klug ist, hört besser zu, als vorschnell zu urteilen. Der SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück ist klug genug, sich in dieser Debatte zurückzuhalten. Denn im Mittelpunkt steht die Frage nach dem menschlichen Maß, das wir anlegen, um Biografien in unterschiedlichen Systemen und Machtgefügen gerecht zu bewerten, zumal derjenigen, die uns regieren wollen. Man wüsste gern, mit welchen allzu menschlichen Bekenntnissen Steinbrück noch punkten könnte, um in vergleichbarer Art an Kontur, an Glaubwürdigkeit und Authentizität zu gewinnen.
Die neueste Auflage der Ost-West-Debatte, die sich an der DDR-Vergangenheit der ersten Frau im Staat aufhängt, ist nicht wahlentscheidend. Aber Angela Merkel kann sie nützen. Mit ihrer entspannten Haltung zur eigenen Geschichte, ihrem gelassenen Umgang mit der Erfahrung der Ambivalenz, mit ihrem freimütigen Bekenntnis zu einer Vergangenheit im stillschweigenden Widerspruch, der nicht zum Widerstand wurde, gewinnt sie Profil. Es ist keine Heldengeschichte, sondern eine Geschichte vom gewöhnlichen Mittelmaß, eine, die mehrheitsfähig zur Identifikation taugt. Ihre Botschaft: Man konnte in der DDR leben, man durfte dort glücklich, sogar erfolgreich sein, ohne sich unentschuldbar in das repressive System zu verstricken. Dies anzuerkennen, macht die DDR keinen Deut besser als sie war und mindert nicht den Respekt, den diejenigen verdienen, die mutiger waren und dem Regime die Stirn boten.
Immerhin: Knapp ein Vierteljahrhundert musste ins Land gehen, ehe der Blick auf die DDR und ihre Bürger solch menschliche Milde erlaubte. Der Aktenstaub über dem Kampfplatz der unmittelbaren Aufarbeitung hat sich gelegt, die alten Seilschaften sind gekappt, die Stasi-Spitzel kaltgestellt – die Nebenwirkungen der bitteren Therapie, die unter anderem die SED-Nachfolgepartei als Identitätsstifterin für jene Ostdeutschen erstarken ließ, die sich vom Kapitalismus überrannt fühlten, lassen langsam nach.
Auch die Union hat eine Rote-Socken-Kampagne heute nicht mehr nötig. Angela Merkel, die Kanzlerin aus Templin, lädt zum differenzierten Blick auf die ostdeutsche Teilerfahrung ein. Sie gehört zur gesamtdeutschen Identität, doch es gibt noch viel zu sagen, bevor es sich ins kollektive Gedächtnis der Nation einprägt. Die Geschichten müssen erzählt werden, damit sie uns verbinden können. Es braucht immer noch Mut dazu, vom Leben in der DDR zu erzählen. Und Geduld zuzuhören. Aber es lohnt sich. Es geht nämlich gut aus: mit einer friedlichen und erfolgreichen Revolution. Eine seltene deutsche Geschichte, an der auch Angela Merkel ihren Anteil hat.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen