Freitag, 16. August 2013

Radler fahren sicherer...


...auf der Straße als auf dem Radweg. Das behauptet die Statistik.
Dass sie lügt, kann in Berlin jeder sehen – und am eigenen Leib erfahren

Willkommen auf der Straße, liebe Radfahrer. Auf dem glatten Asphalt geht’s schneller voran – und sicherer soll es auch sein als auf dem Fahrradweg. Doch dann knattert irgendein Mopedfahrer gefährlich dicht heran und schreit: „Hey, da ist ein Radweg!“ Trotz des Schrecks weist man beherrscht freundlich darauf hin, dass Radfahrer den nicht benutzen müssen; er solle doch mal die Straßenverkehrsordnung lesen. Aber dafür interessiert sich der Behelmte nicht. „Du hältst den ganzen Verkehr auf“, brüllt er und knattert stinkend davon. Radfahren ist ja so gesund.
Und je mehr Radler auf der Straße fahren, desto mehr Geld spart der Staat. Schließlich ist es viel billiger, ein paar zusätzliche Radstreifen auf die Straße zu malen und dafür die Fahrbahnen für Autos zu verengen, als bestehende Radwege instand zu halten. Jene Fahrradaktivisten, die Stimmung für die Demontage der blauen Gebotsschilder machen, welche Radfahrern zwingend vorschreiben, den Radweg zu benutzen, helfen in Berlin am Ende vor allem einem Senat, der die Ausgaben für die Radwege drastisch senken möchte. 
Der Mythos „Auf der Straße sind alle, die Räder unterm Hintern haben, sicherer als auf getrennten Wegen“, wirkt an dieser Stelle leider. Er verstärkt den Anschein, es werde etwas getan für die Verkehrsinfrastruktur – dabei ist das Gegenteil richtig: Ein großer Teil, nämlich die Radwege, wird dem Verfall preisgegeben. Und auf der verbleibenden Fläche, der Straße, kommen Autofahrer und Radfahrer weniger gut miteinander aus. Das kann jeder sehen – und am eigenen Leib erfahren. 
Und doch sieht es nicht jeder. Selbst passionierte Radfahrer wie Londons Bürgermeister Boris Johnson, erblicken in Berlin ein „Paradies für Fahrradfahrer, wo sich die helmlosen Horden über die weiten Alleen schlängeln und wo ein Mercedes ehrerbietig wartet, bis eine Familie seine schnurrende Motorhaube passiert hat“, wie Johnson kürzlich in einem Zeitungsbeitrag schrieb. Ja, der Anblick der vielen Radfahrer auf Berlins Straßen mag zu der Annahme verleiten, das Fahrrad sei das Gefährt der Könige im Verkehr. Dabei bleibt Radfahrern oft gar nichts anderes übrig als die Straße zu benutzen, weil die Radwege in erbärmlichem Zustand sind: von Baumwurzeln untertunnelte Holperpisten, zerklüftete Parcours, die nur noch mit Mountainbikes befahrbar sind. Von wegen Könige!
Aber an das Märchen von der erhöhten Sicherheit des Radfahrers auf der Straße glauben viele trotzdem. Warum? Moderne Mythen behaupten sich besonders hartnäckig, wenn sie mittels statistischer Kabbala wissenschaftliche Korrektheit vorgaukeln: Als Beleg für den Auf-der-Straße-sind-Fahrradfahrer-sicherer-Mythos dienen Studien, denen zufolge die Gefahr für Radfahrer, bei schweren Verkehrsunfällen mit Autos getötet oder verletzt zu werden, geringer ist, wenn sie auf der Straße fahren und nicht auf dem Radweg. Das mag stimmen, solange man nur die absoluten Unfallzahlen miteinander vergleicht.
Doch diese Zahlen lügen: Sie verschweigen, dass ein signifikanter Anteil von Fahrradfahrern die Straße meidet, selbst wenn es sicherer wäre, dort zu fahren als auf dem Radweg. Und das ist ausgerechnet jene Gruppe der älteren Verkehrsteilnehmer, die mit Abstand am häufigsten zu Opfern schwerer Radunfälle werden. Dass diese Menschen sich gar nicht trauen, mit dem Fahrrad auf der Straße zu fahren, ist ein Grund, dass die Unfallbilanz dort gleich besser aussieht. Die Alten bleiben entweder auf den Radwegen, oder sie geben – was sich unfallstatistisch nicht mehr erfassen lässt – das Radfahren auf, weil die maroden Strecken zu gefährlich werden. So führt der Mythos von der sicheren Straße auch dazu, dass gerade ältere Radfahrer einen Teil ihrer Mobilität einbüßen.
Die Straße bleibt nur den Starken – und Halbstarken. Der Radverkehr nimmt zu, der gemeinsam genutzte Verkehrsraum wird fortwährend kleiner, das erhöht den Stress aller Beteiligten. Sie schneiden sich und werden geschnitten, sie beleidigen und drohen sich. Und offenbar erhöht die ständige Gefahr auch die Vorsicht. Anders ist wohl kaum zu erklären, dass so wenig passiert.


Tagesspiegel vom 17.08.2013, Sonnabendbeilage MEHR BERLIN

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