Stell dir vor, du
wirst im Vivantes-Klinikum am Friedrichshain geboren, und das erste, was du zu
sehen bekommst, ist nicht die Mama, sondern eine Kamera von RTL. Gerade auf die
Welt gekommen, noch ganz schrumpelig, die Augen verklebt und vom Licht
geblendet – und schon auf Sendung in der
Serie „Babyboom – Willkommen im Leben“.
Erster Auftritt im Leben: nackt im Fernsehen. Na, schönen Dank auch.
Alle haben
eingewilligt in das neue Sendeformat, das zurzeit nach dem Vorbild der
britischen Erfolgsserie „One Born Every Minute“ in Berlin gedreht wird: Die
zeigefreudigen Eltern, das landeseigene Klinikum, das mit Steuergeld und
Krankenkassenbeiträgen allein wohl nicht profitabel zu wirtschaften vermag, und
der Privatsender sowieso, der sich vom voyeuristischen Blick in den Kreißsaal
Zuschauer und Werbeeinnahmen verspricht. Nur dich, den kleinen Hauptdarsteller,
hat keiner gefragt.
Wann verjährt diese
Art von Kindesmissbrauch? Vermutlich schneller, als du in der Lage bist, dir einen
Anwalt zu nehmen.
Berlins
Gesundheitssenator Mario Czaja (CDU) sieht zwar die Rechte und Intimsphäre des
Kindes in Gefahr – und hat den Klinikkonzern angewiesen, die Aufnahmen bis zur nächsten Vivantes-Aufsichtsratssitzung am 20. März auszusetzen. Aber RTL und die Klinikleitung zeigen dafür wenig Verständnis, und wer weiß, ob der Mann noch im Amt sein wird, bis du
groß bist. Auch der Datenschutzbeauftragte des Landes, Alexander Dix, zieht
amtsschuldig die Stirn in Falten, er fordert eine Stellungnahme des
Klinikkonzerns. Deren Rechtsabteilung hat den Deal mit RTL allerdings zuvor
geprüft. Der Datenschutzbeauftragte kann sich seine Stirn ebenso gut botoxen
lassen. Und Vivantes-Sprecherin Mischa Moriceau – ein Name, der viel zu schön
klingt, um in den öden Büroräumen eines Krankenhauses zu verhallen – übt sich
schon für einen TV-tauglichen Aufsager: „Es geht hier nicht um Voyeurismus,
sondern um Authentizität.“ Wobei sie mit dem letzten Fremdwort im
Privatfernsehen allenfalls bei Alexander Kluge durchkäme. Aber das kann ja noch
werden, Frau Moriceau.
Und dich, Baby,
werden sie ganz klein rausbringen – ob du willst oder nicht. Ehe du dich gegen
deine Kommerzialisierung im Fernsehen wehren kannst, wird das Format sicher durch nächtliche Wiederholungsschleifen ins Online-Archiv entsorgt worden
sein. Und in der Prime Time läuft längst der nächste Tabubruch als Reality-Serie. Der
Grünen-Gesundheitsexperte Heiko Thomas, der sagt, er hätte Vivantes von einer
Beteiligung am Geburts-TV abgeraten, wenn man ihn vorher gefragt hätte, hat
unfreiwillig schon die Idee geliefert: „Sind wir irgendwann beim Sterben
dabei?“ Herr Thomas sollte sich diesen Einfall schnell honorieren lassen –
bevor RTL den Vertrag mit einem Hospiz geschlossen hat. | Stephan Wiehler
Dieser Beitrag im Tagesspiegel
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