Donnerstag, 18. April 2013

Stillgehalten

Die Union und die Quote: Zu wenig Demokratie gewagt


Am Ende ging es gar nicht mehr um die Frauenquote, ob fest oder flexi, heute oder übermorgen – im Bundestag wurden am Donnerstag noch einmal die bekannten Argumente ausgetauscht, und nach der erwartbaren Debatte folgte das Ergebnis, das kommen musste: berechenbar nach den Mehrheitsverhältnissen, denen frei gewählte Abgeordnete ihre Überzeugungen unterordnen, wenn es der Fraktionszwang oder ein Parteitagsbeschluss gebieten. Die Verfassung kennt weder das eine noch das andere, sie bindet die Entscheidungsfreiheit eines jeden Parlamentsmitglieds allein an sein Gewissen. Die unterlegenen Frauen und Männer der Regierungskoalition, die den Antrag der Opposition für eine gesetzliche Quotenregelung angeblich so gerne mitgetragen hätten und nun weitere Jahre auf die Freiwilligkeit der Wirtschaft vertrauen, werden wohl auch ihr Stillhalteabkommen irgendwie mit ihrem Gewissen vereinbaren – und den gefundenen Kompromiss im bevorstehenden Wahlkampf als Erfolg verkaufen müssen. So ist Politik.
Aber diese Machtprobe bleibt für alle Beteiligten eine Niederlage, besonders schmerzhaft für die CDU, deren erste Spitzenfrau das Parteivolk doch so flexibel wie keine andere Führungskraft vor ihr auf den Zeitgeist einzustellen weiß. Angela Merkel, die sonst so versierte Taktikerin der Macht, hätte jedes Abstimmungsergebnis über die Quote vertreten können; auch ein fraktionsübergreifendes Votum für den Gesetzentwurf von SPD und Grünen: Der große parlamentarische Konsens für die gesetzliche Frauenquote in Aufsichts- und Verwaltungsräten wäre als deutliches Bekenntnis zur Gleichstellung der Geschlechter auch in der Bevölkerung mitgetragen worden. Thema abgeräumt, Debatte beendet.
Nein, die Frauenquote wird nicht wahlentscheidend sein. Euro, Arbeit, Sicherheit: Es gibt Wichtigeres. Die Union, geschweige denn die Koalition, wäre an dieser Frage gewiss nicht zerbrochen, selbst wenn offen und heftig diskutiert worden wäre. Und offenbar sehen das die Ministerinnen Ursula von der Leyen und Kristina Schröder und die meisten ihrer Mitstreiterinnen und Unterstützer ganz genauso. Es war ihnen nicht wichtig genug. Andernfalls hätten sie mehr Mut gezeigt, mehr Demokratie gewagt.
Es hätte sie wenig gekostet, ihrem Willen zu folgen, für die politische Überzeugung und das gemeinsame Anliegen mit der Opposition einzustehen und ihre gesetzgeberische Macht als Parlamentarier zu nutzen. Stattdessen haben sich die Befürworter der gesetzlichen Quote auf ein Wahlversprechen des Unionsfraktionschefs Volker Kauder vertrösten lassen. Sie wird schon kommen, die Quote, gleich nach der Wahl, wenn wir sie gewinnen, und wenn die Wirtschaft dann nicht freiwillig Frauen vorlässt ... und wenn Worte nicht bloß Worte bleiben.
Auch so ist Politik. Manchmal sind Kompromisse eben faul. Sie werden nicht dadurch glaubwürdiger, dass man sie nachträglich noch betanzt. Niemand verlangt von Verlierern, sich über eine Niederlage zu freuen. Aber in dieser Frage hätte es gar nicht viel Mut gekostet, standhaft zu bleiben – um der Selbstachtung willen und aus Respekt vor dem Mandat des Abgeordneten. Es ist immer auf Zeit geliehen. Auch noch so strenge Partei- und Fraktionsdisziplin vermögen den Aufenthalt im Parlament nicht zu verlängern, wenn sich bei Wählern der Eindruck verfestigt, Parlamentarier lassen sich ihre Überzeugungen abkaufen. Frauen, die stillhalten, nutzen der Gleichstellungspolitik wenig. | Stephan Wiehler

Leitartikel im Tagesspiegel vom 19. April 2013

Freitag, 5. April 2013

Wohnen ist so immobil


Ach, liebe Leserinnen und Leser, das große Drama dieser Stadt ist, dass Glanz und Elend so nah beieinanderliegen. Mitunter fällt es schwer, das eine vom anderen zu unterscheiden. In anderen Großstädten wie Gelsenkirchen oder Kinshasa würden sich die Menschen über ein wenig Gentrifizierung (von engl. gentry: Adel), also den Zuzug von Wohlhabenden und die Aufwertung von Stadtteilen, freuen. In Berlin bleibt man lieber unter sich, alles soll besser bleiben, wie es ist, auch auf die Gefahr hin, dass bald wieder Balkone abstürzen. Die Folgen: Wohnungsnot und Preisanstieg. Es trifft alle: Alte, Arme, Alleinerziehende – auch Minderheiten wie Familien mit Kindern. Sogar die Begabten, die künftigen Eliten. Allein 900 Bewerber für einen Wohnplatz stehen vor Beginn des neuen Semesters auf der Warteliste des Berliner Studentenwerks. Neue Wohnheime sollen gebaut werden. Doch bis sie stehen, ist Kreativität gefragt. Hey, Kreativität ist unser zweiter Vorname! Wir hätten ein paar Ideen, wo Studierende schnell und günstig unterkommen könnten:

Campus Tempelhof

Das größte Gebäude der Stadt steht größtenteils leer, teilweise im Rohbau. Die US-Alliierten hinterließen am ehemaligen Flughafen Turnhallen, Cafeterias, Gemeinschaftssäle. Mit ein paar hundert Etagenbetten und gutem Willen ist hier in wenigen Monaten ein prima Studentendorf gestemmt, mit U- und S-Bahn-Anschluss – und in ein paar Jahren steht gleich nebenan die neue Landesbibliothek.

Kommune 2.0

Sie waren die ersten Gentrifizierer in Berlin: Auf der Straße riefen sie nach Ho Chi Minh, zu Hause richteten sie sich teuer ein. Mit den 68ern kamen italienisches Design, gut sortierte Weinläden, Edelgastronomie. Inzwischen sind sie Architekten, Anwälte oder frühpensionierte Lehrer; die Kinder sind aus dem Haus und in ihren Charlottenburger 190-Quadratmeter-Wohnungen wäre viel Platz für studentische Untermieter. Also Genossen: Lasst mitwohnen! Sonst wird enteignet.

Schnell gebaut und auch im Winter bewohnbar: Scube-Park in Neukölln.


Containerdorf im Plänterwald

Im früheren Vergnügungspark plant ein Investor 400 Wohnplätze für Studenten in Containern. Wenn sich endlich ein Betreiber für den Spreepark findet, könnten dort auch Studentenjobs entstehen: vom Karussellbremser bis zum Zuckerwattedreher.

Mobilstudium

Hipster wissen: Wohnen ist total immobil. Heute wird unterwegs studiert. W-Lan ist überall, Kneipen kennen keine Sperrstunde. Geschlafen wird auf dem Notebook-Deckel, in der Bahn oder in den Semesterferien – bei Mutti zu Hause oder in Thailand am Strand.


Erschienen im Tagesspiegel vom 6. April 2013
Sonnabendbeilage MEHR BERLIN

Gott sei Dank, es war doch kein Permafrost!

Liebe Berliner Gartenfreunde, 

wir hatten es nicht mehr erwartet nach diesem finsteren Winter. Aber der Lenz streckt seine müden Glieder, langsam kommt er aus dem Knick. Es geht wieder los, also nichts wie raus: Endlich wieder Hammel schlachten im Tiergarten, die Aquakultur im Spreebogen ansetzen, das Saatgut aufs Tempelhofer Feld hinausstreuen, den Prinzessinnengarten düngen. Die Guerilla Gardening Saison ist eröffnet. Präsentiert die Krabber, Rechen, Unkrautstecher, Spaten und Spieße - auf zum fröhlichen Graben, Vertikutieren und Einpflanzen! Kein Frühlingssturm, kein Aprilregen, kein Hagel soll uns abhalten von unserem seligen Schöpferwerk: Der Natur auf jedem freien Flecken Erde dieser Stadt, auf jeder Brache zum ersprießlichen Durchbruch zu verhelfen, die zarten Knospen unseres Schaffens zur allergeilsten Blüte zu treiben. In diesem Sinne: Säet und setzet, heget und pfleget. Frisch auf, Naturvolk der Großstadt! Lass es fruchten! Oder kurz gesagt:



"Abgedichtet" in MEHR BERLIN, Tagesspiegel vom 6. April 2013

Freitag, 22. März 2013

Bürger, an die Latrinen!


Ein Aufruf zum Frühjahrsputz auf Berliner Schultoiletten

An der Grundschule unserer Tochter gibt es demnächst einen Projekttag zum Thema Hygiene. Lehrer und Erzieher hatten sich zu diesem Anlass überlegt, die Kinder der ersten Klassen die Toiletten putzen zu lassen. Die Eltern waren davon nicht so begeistert. Viele Kinder meiden die Toiletten in Berliner Schulen. Das hat die „German Toilet Organisation“ (GTO) unlängst bei einer Umfrage unter 290 Schülern an zwölf Berliner Oberschulen ermittelt. Elf Prozent gehen demnach in der Schule nie auf die Toilette, 64 Prozent „nur im Notfall“. Dreiviertel der Befragten finden Schul-WCs zu schmutzig. Die maroden Zustände förderten den Vandalismus, der alles noch schlimmer mache, erklärt die GTO, eine Berliner Hilfsorganisation, die mit Spendengeld die sanitäre Lage in Ländern der Dritten Welt verbessert: in Indien, Sri Lanka oder Sambia. Auch Berlin hätte die Hilfe bitter nötig. Auf mehrere hundert Millionen Euro schätzen Experten den Sanierungsbedarf an Berliner Schulen, 64 Millionen stehen dafür in diesem Jahr zur Verfügung. Das reicht nicht einmal für die notdürftigsten Arbeiten.
Wer etwas über den Bildungsstandort Berlin lernen will, sollte sich in den Schulklos umsehen. Natürlich werden die Schultoiletten regelmäßig von Reinigungspersonal gepflegt. Aber das darf möglichst wenig kosten, daher wird vielerorts nicht häufig genug sauber gemacht. Wenn sich Kinder deshalb weigern die Toiletten zu benutzen, werden Eltern ihnen wohl kaum zumuten wollen, die Klos saubermachen zu müssen.
Die Schulleitung an unserer Grundschule – sie liegt in Tempelhof-Schöneberg – hält das Toilettenproblem für unlösbar: Für zusätzliche Reinigungseinsätze fehle das Geld, heißt es. Die Elternvertretung ist darum auf die Idee gekommen, zum Hygiene-Tag Väter und Mütter zu einer Putz- und Renovierungsaktion einzuladen. Reinigungsmittel und etwas Farbe werden kostenfrei gestellt. Eine zusätzliche Reinigung im Jahr ist schließlich besser als keine.
Die Bildungspolitik dieser Stadt macht immer klüger. Man hat den Eindruck: Gerade weil das Geld fehlt, blüht die Kreativität. Davon könnte die Stadt auch andernorts profitieren. Warum werden Antragssteller in Behörden nicht dazu angehalten, während der Wartezeit die Toiletten zu reinigen? Dafür sollte man Anreize schaffen: Wer putzt, kommt früher ran, Anträge werden bevorzugt bearbeitet. Und was ist mit den städtischen Kliniken? Statt über multiresistente Keime und Staubmäuse unter den Betten zu meckern, könnten Angehörige von Patienten doch mal die Latexhandschuhe überstreifen und sich mit dem Wischmopp nützlich machen. Merkwürdig, dass solche Ehrendienste bisher nur Schulkindern und ihren Eltern angetragen werden.
Im gemeinsamen Leitbild für die Hauptstadtregion von Berlins Regierendem Klaus Wowereit und Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck heißt es: „Wir wollen, dass die Hauptstadtregion eine Vorbildfunktion bei der Modernisierung der Gesellschaft übernimmt. Ziel ist der aktivierende Staat, der die Menschen in ihrer Eigeninitiative unterstützt.“ In diesem Sinne zeigt Berlin, die Zukunftswerkstatt der Republik, wie die Zivilgesellschaft von morgen aussieht. Der Staat der Schuldenbremse lehrt Freiwilligeneifer und Demut – und drückt Steuerzahlern den Scheuerlappen in die Hand. Bürger, an die Latrinen!
Der Bezirk Tempelhof-Schöneberg hat übrigens gerade die Aufträge für die Reinigung von den Schulen neu ausgeschrieben. Die Zuschlagskriterien für „das wirtschaftlich günstigste Angebot“: niedrigster Preis (Gewichtung zwei Drittel), höchste Reinigungszeit (Gewichtung ein Drittel). Die Firma, die den Zuschlag erhielt, will dem Putzpersonal des Subunternehmens, das die Schulen bereits bisher gereinigt hat, künftig deutlich weniger Arbeitsstunden vergüten. An Berliner Schulen wird sich die sanitäre Lage wohl weiter an die in Entwicklungsländern angleichen. 

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Donnerstag, 21. März 2013

Meine Nazi-Vergangenheit


Für ein aufklärendes Gespräch mit der Generation der Hitler-Deutschen ist es zu spät. Vom Tätervolk leben inzwischen fast nur noch Verführte

Der ZDF-Dreiteiler „Unsere Mütter, unsere Väter“ ist versendet, zurückgeblieben ist die Illusion, das TV-Drama könnte endlich ein Gespräch anregen zwischen den Generationen, zwischen jenen, die Zeitzeugen des Nationalsozialismus waren, und den Nachgeborenen. Doch von wenigen Ausnahmen abgesehen, ist es dafür zu spät. Wer das Kriegsende 1945 als 18-Jähriger und mit halbwegs entwickeltem Erwachsenen-Bewusstsein erlebt hat, ist heute 86 Jahre alt oder bereits gestorben. Es ist die damalige Flakhelfer-Generation, es sind die Jungmädel und die Kindersoldaten – allenfalls die Verführten. Die Täter und ihre Komplizen, die feigen Mitwisser und verängstigten Mitläufer, sie sind nicht mehr. Gesprochen über das, was in der Nazizeit geschehen ist, über die eigene Verstrickung und Mitverantwortung, hat von ihnen in den vergangenen fast 70 Jahren kaum einer, geschweige denn über persönliche Schuld. Vielleicht bleibt eine Handvoll, die jetzt zum Reden bereit ist.
Mit den Opfern und ihren Nachkommen war das nicht viel anders, das Erlebte blieb tabu, das Schweigen der Überlebenden belastet noch nachfolgende Generationen. Psychiater sprechen vom Post-Holocaust-Trauma. Es ist weit verbreitet und wissenschaftlich eingehend untersucht. Vom Post-Nazi-Trauma unter den Nachkommen der Täter ist dagegen wenig bekannt.
Meine Großväter, beide Jahrgang 1908, sind länger als 30 Jahre tot. Beide waren Raucher. Mein Vater, geboren 1940, Flüchtlingskind aus Westpreußen, konnte noch nichts wissen und hat später nicht gefragt. Über den Krieg sprachen meine Großväter, Hans und Walter, trotzdem. Miteinander. Ich erinnere mich an meine Kindergeburtstage und die dichten Rauchschwaden, in denen die beiden an der Kaffeetafel verschwanden, wenn die alten Männer ihre Kriegserlebnisse austauschten. Walter ("Juno" ohne Filter), der im Marinehafen im französischen Brest stationiert war, sprach von Omelett und „Weng Rousch“ (Französisch für Rotwein), Hans (Brasil-Zigarren), der zunächst bei einer Versorgungseinheit der Wehrmacht und spät an die Ostfront und in Kriegsgefangenschaft geriet, erzählte von eimerweise Machorka, die es beim Russen zu rauchen gegeben habe. Harmlosigkeiten, Landser-Romantik. Das Verfänglichste, das Walter, der Vater meiner Mutter, gelernter Anstreicher, später Postbeamter und Quartalssäufer, immer mal wieder erzählte, war, dass er an seinem Geburtstag, dem 19. April, mit seinen Freunden regelmäßig reingefeiert hätte – in den „Führergeburtstag“. In welchen Kreisen er vermutlich gefeiert hatte, erfuhr ich erst viel später. Großvater Hans, passionierter Jäger, der nach den mageren Kriegsjahren schnell an Umfang zugelegt hatte und schon dadurch etwas unnahbar geworden war, reagierte nur einmal auffallend dünnhäutig: als sein Enkel Cowboy spielte und eine Plastikpistole auf ihn richtete. „Niemals auf Menschen zielen“, herrschte er mich an. „Auch nicht mit Spielzeugwaffe.“
Über die letzten vier Jahrzehnte wurden dem deutschen Fernsehpublikum viele Anstöße zu Gesprächen über die Hitler-Diktatur und ihre Folgen gegeben, angefangen mit der US-amerikanischen Serie „Holocaust“, die 1979 das Schicksal der jüdischen Familie Weiß in die Wohnzimmer brachte und die Frage „Was habt ihr gewusst?“ gesellschaftsfähig machte. Je länger Krieg und  Verbrechen zurücklagen, desto größer durfte der Kreis der Opfer werden: Ob Flucht und Vertreibung („Die Gustloff“, 2008; „Die Flucht“ 2007), Vergewaltigungen durch Rotarmisten („Anonyma – eine Frau in Berlin“, 2008) oder die Bombennächte („Dresden“, 2006) – die Moral all dieser Erzählungen lautet: Auch die Deutschen haben gelitten. „Unsere Mütter, unsere Väter“ hinterlässt schon mit dem kollektivistischen Titel den verstörenden Eindruck, dass im System des totalitären Terrors niemand eine Wahl hatte, dass Widerstand sinnlos war. Inzwischen ist eine solche Darstellung – so falsch sie sein mag – auch deshalb konsensfähig geworden, weil kaum noch ein Zeitzeuge lebt, der mit der Überzeugungskraft eigener Erfahrung widersprechen könnte.
Denn von denjenigen, die noch leben, kann ernsthaft keine Antwort auf die Frage erwartet werden, warum sie es geschehen ließen. Sie waren Kleinkinder, als Hitler die Macht übernahm. Für die Pimpfe, die Jungmädels, für die Volkssturm-Jugend, das letzte Aufgebot des Krieges, gilt die Unschuldsvermutung.
So bleibt am Ende doch wieder allenthalben das Schweigen.
Meine Großväter, Jahrgang 1908, hatten dagegen die Wahl. Und beide entschieden sich für Hitler, freiwillig. Sie reihten sich ein in die Kolonnen hinter der Hakenkreuzfahne, wie Millionen andere, und sie marschierten mit, lange genug, um mitschuldig zu werden. Das war zu ihren Lebzeiten nie ein Thema, schon gar nicht beim Kindergeburtstag.
Bis heute gibt es nur wenige, aber dafür deutliche Hinweise auf die Nazi-Vergangenheit meiner Großväter. Als meine Mutter 2008 starb und der Pfarrer zu uns nach Hause kam, um seine Predigt zu ihrer Beerdigung vorzubereiten, erzählten ihre Schwestern beiläufig, dass ihr Vater, mein Großvater Walter, bereits 1937 – zwei Jahre vor Kriegsbeginn – zur Wehrmacht eingezogen und längere Zeit weg gewesen sei. Der Pfarrer erklärte, dass er das häufiger höre. Im Landkreis Ammerland (nordwestlich von Bremen) hätten sich viele Männer freiwillig zur „Legion Condor“ gemeldet, mit der Hitler die Franco-Putschisten im spanischen Bürgerkrieg unterstützte.
Von der braunen Gesinnung meines Großvaters Hans erfuhr ich 2010 bei einem Familientreffen in Kanada. Ein Großonkel, ein frommer Mennoniten-Prediger mit weißem Bart, damals 92 Jahre alt, erzählte mir, dass Hans, sein „Lieblingscousin“ und dessen Vater, schon lange vor 1933 „begeistert vom Hitler gewesen und ständig in Braunhemden herumgelaufen“ seien. Später habe sich das allerdings geändert, sagte mein Onkel. Wann das war, wusste er nicht mehr zu sagen. Ich habe noch nicht weiter geforscht. Vielleicht will ich das alles so genau auch gar nicht wissen.

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Freitag, 8. März 2013

Rote Rosen


Damen, aufgepasst: Die Pankower SPD hat einen stacheligen Charmebolzen zum Direktkandidaten gekürt


Sehr aufmerksam, dieser Herr Mindrup von der SPD. Der frisch gekürte Pankower Direktkandidat für die Bundestagswahl ließ am Freitag rote Rosen verteilen – zum internationalen Frauentag (charmant, charmant!) und, na ja, um durch die Blume auch ein bisschen auf sich selbst und die Pankower Sozialdemokratie aufmerksam zu machen: Aufgepasst, liebe Damen, am 22. September Mindrup wählen!
Moment mal, Mindrup? Klaus Mindrup? Ist das nicht der Mann, der erst vor gut zwei Wochen auf der Kreisvertreterversammlung zum Direktkandidaten bestimmt wurde – und eine Mehrheit gegen das Votum einer Mitgliederbefragung organisiert hatte? Die Parteibasis im Bezirk hatte zuvor Leonie Gebers, Referentin für Arbeit und Wirtschaft in der SPD-Bundestagsfraktion, als Direktkandidatin favorisiert – eine Frau. Doch dieses Votum war rechtlich nicht bindend. Ganz schön link vom Herrn Mindrup. Tja, aber Klaus Mindrup ist eben ein Linker, vom Parteiflügel her gesehen, der hat Gewicht im Bezirk. Und ein guter Netzwerker ist er auch. Herr Mindrup hätte jeden Konkurrenten besiegt. Auch Wolfgang Thierse hat er schon aus seinem Wahlkreis verdrängt. Sorry, aber dass diese Gebers ausgerechnet eine Frau ist, dafür kann Mindrup ja nun wirklich nichts. 

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"Berliners fight for Hitler's wall!"


#Eastsidegallery - "Das Ausmaß des Protests hat mich überrascht." Bürgermeister Franz Schulz (Grüne) bleibt dabei: Der Mauerstreifen am Friedrichshainer Spreeufer soll unbebaut bleiben und als authentischer Gedenkort erhalten werden. Das Interview im Tagesspiegel


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Ach, liebe Leserinnen und Leser, wieder entzweit die Mauer die Menschen in dieser von Gentrifizierung geschundenen und wegen unfertiger Großprojekte verhöhnten Stadt. Der Kampf an der ehemaligen Zonengrenze geht in eine neue Runde. Diesmal zum Glück ohne Waffen und Schießbefehl. Vielleicht wird die Auseinandersetzung ja gerade deshalb so erbittert geführt, weil die Abschreckung fehlt. Früher jedenfalls war der Todesstreifen demofreie Zone.
In den vergangenen Tagen haben wir gelernt, dass der Betonwall ein Kulturdenkmal geworden ist. Margot Honecker wird es in ihrem chilenischen Exil mit Genugtuung erfüllen. Beim Protest gegen den Mauerdurchbruch an der East Side Gallery wuchs zusammen, was nicht zusammenpasst. Mediaspree-Gegner, Hipster, Tourismuswerber und Denkmalschützer gingen gemeinsam demonstrieren – mit internationaler Strahlkraft. Auch in Amerika machte das Schlagzeilen: „Berliners fight for Hitler’s wall“, schrieb der „Boston Globe“ oder irgendeine andere texanische Zeitung. Egal. Aber wie denken die normalen Berlinerinnen und Berliner über den Streit? Wir haben uns umgehört.

Schöneberg, 11.30 Uhr: Axel O. (46), Coiffeur, in Eile am Winterfeldtplatz: „Ochnee, nicht zu politischen Fragen. Ich muss jetzt Schrippen holen. Schüssi.“
Geteiltes Schicksal. Grenzhund Bello und sein Dienstherrchen
von der NVA sind seit 23 Jahren arbeitslos. Forum DDR-Grenze

Hellersdorf, 12 Uhr: Gertrud M. (92), auf einer Bank im Liberty Park: „Dafür sind wir ’89 nicht auf die Straße gegangen, dass die Mauer stehen bleibt. Ich sowieso nicht – als Frau vom Minister.“

Lichtenberg, 12.25 Uhr: Geschichtslehrer Günter Z. (58), im zweigestreiften Trainingsanzug vor dem Sportforum Hohenschönhausen. „Bloß nicht noch mehr Löcher. Kommen schon genug rüber, Studenten und Zeugs. Wird alles nur teurer.“ Schaut die Straße raufrunter und kommt ganz nah ran. „Wenn’s nach mir geht: Wieder aufbauen die Mauer, aber diesmal sechs Meter hoch - mindestens.“

Wilmersdorf, 13.05 Uhr: Benny P. (15), auf dem Schulhof des Goethe-Gymnasiums, konzentriert sich auf sein Handy-Ballerspiel: „Was für ’ne Mauer…? Ach Scheiße, jetzt bin ich tot“.
Reinickendorf, 16.40 Uhr: Ernst-Friedrich B. (74), emeritierter Germanistik-Dozent aus Heiligensee: „Wissen Sie, Iest Seid Gällerie, da sage ich Ihnen gleich gar nichts dazu. Die Verenglischung der Schandmauer halte ich für eine Beleidigung der deutschen Sprache – und unserer West-Alliierten.“

Treptow, 18 Uhr: Vor dem Herrenrasse-Ausstatter „Hexogon“ in Schöneweide. Pascal H. (23) versteht die Frage nicht. „Welche Mauer? Scheiße, du bist gleich tot, Zecke.“


Spandau, 19.10 Uhr: Walter P. (88), Bierstübchen Schönwalder Straße. : „Wat? Die Grenze is’ uff? Mach keene Witze.“


Erschienen im Tagesspiegel vom 9. März 2013, MEHR BERLIN