Montag, 4. November 2013

Schicksal und Geschichte. Der 9. November und die Deutschen


Neunter November, Schicksalstag der Deutschen. Was soll das sein, das Schicksal einer Nation? Fügung, Geschick, Vorsehung oder Zufall? Man kann dieses Datum wenden und wieder wenden, immer scheint etwas anderes auf. Im 9. November braut sich zusammen, was nicht zusammengehört: Räterevolution und Republik, Terrorputsch, Pogromfeuer, Vereinigungsglück.
Die Schicksalswege überlagern und kreuzen sich, irgendwie hängt alles in diesem 20. Jahrhundert zusammen, aber musste die Mauer ausgerechnet an einem 9. November fallen? Der glücklichste Tag der jüngsten deutschen Geschichte strahlt hell in die Gegenwart und droht zugleich die Erinnerung an das abgründigste Datum, die Brandnächte von 1938, zu verdunkeln.
So gnadenlos ist die Vergangenheit: Sie entgleitet uns. Und mehr noch: Allein diesen beiden Ereignissen in einer angemessenen Form des Gedenkens an ein und demselben Tag gerecht zu werden, ist eine Zumutung. Schon der Versuch muss scheitern. Aber wir kommen um diesen 9. November nicht herum. Das könnte man Schicksal nennen. Oder Verantwortung.
Für kein November-Ereignis legt die Geschichte den Deutschen größere Verantwortung und Haftung auf als für die Pogromnächte von 1938. Mit ihrer flächendeckenden Gewaltorgie gegen jüdische Deutsche, der Zerstörung von Synagogen und Geschäften, der Menschenjagd auf offener Straße machten die Nationalsozialisten ihr Ziel offenkundig: Die Juden, ihre Kultur sollten aus Deutschland verschwinden. Das Fanal zeigte jedem, der es sehen wollte, die klare Absicht, den Juden im Reich die Lebensgrundlage zu entziehen. Man trachtete ihnen nach dem Leben.
Aber ihr Schicksal war noch nicht besiegelt, die systematische Ermordung in den Vernichtungslagern nicht absehbar. Die Terrornacht von 1938 war selbst in der NS-Machtelite umstritten. Göring beklagte die „sinnlose Zerstörung von Sachwerten“, von ablehnenden Reaktionen in der Bevölkerung zu schweigen. Und vermutlich wäre alles anders gekommen, wenn der Schweizer Maurice Bavaud am selben 9. November 1938 seinen Plan vollendet hätte, Hitler beim Gedenkmarsch zur Münchener Feldherrenhalle zu erschießen. Er kam nur nicht nahe genug an ihn heran. Auch ein Schicksal.
Die Dimension historischen Geschehens erschließt sich erst im Nachhinein, weil wir Geschichte immer von ihrem Ende her denken. Doch jedes Ende bleibt eine narrative Illusion. Die Geschichte, zumindest jedes ihrer epochalen Ereignisse, holt uns immer wieder ein. Weil sich Lesarten im Licht der Gegenwart wenden, wie die aktuelle Debatte um Theodor Eschenburg zeigt. Der einstige „Lehrer der Demokratie“ und Gründungsvater der Politikwissenschaft der deutschen Nachkriegszeit, ist als Namensgeber eines Preises nicht länger erwünscht, weil er in der NS-Zeit an der „Arisierung“ eines Unternehmens beteiligt gewesen sein soll und überdies SS-Mitglied war. Plötzlich ist nachrangig, dass Eschenburg vor- und nachher ein tadelloser Demokrat war. Es bleibt der Mitläufer, der Geduckte, von denen es zu viele gab.
Geschichte kehrt stets zurück, zuweilen mit Wendungen, die uns aufs Neue beschämen. Die Nachricht dieser Woche, dass die Leiche des berüchtigten Gestapo-Chefs Heinrich Müller womöglich bei Kriegsende in einem Massengrab auf dem Jüdischen Friedhof an der Großen Hamburger Straße bestattet wurde, gehört zu solchen entsetzlichen Wendungen. Der Nazitäter, begraben mit seinen Opfern, das ist schwer zu ertragen. Das Vergangene lässt uns nicht los, selbst die Toten kommen nicht zur Ruhe.
„Zu allem Handeln gehört Vergessen“, schreibt Nietzsche in seinem Traktat „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“. Je weiter ein Ereignis in die Vergangenheit entrückt, desto schwächer wirkt die Kraft der Erinnerung. So leicht macht es uns der 9. November nicht. Zu beladen ist das Datum. Mit Glück und Unglück. Es lehrt, dass wir unser Schicksal frei bestimmen müssen. Verantwortung verjährt nicht.

Dieser Beitrag im Tagesspiegel vom 3.11.2013

Sonntag, 22. September 2013

Geht hin und wählt!


Stephan Wiehler erinnert zur Bundestagswahl an den letzten Leitartikel des Publizisten Theodor Wolff im „Berliner Tagblatt“ – zur Reichstagswahl am 5. März 1933

Es habe einfach nicht genug Demokraten gegeben, um die Deutschen vor dem Sturz in die Hitler-Diktatur zu bewahren, so lautet ein oft gehörtes Urteil. Zu jenen, die Demokrat genug waren und ihre Stimme dafür erhoben, so lange sie konnten, gehörte der Publizist Theodor Wolff. Die Hoffnung in die demokratischen Kräfte bewahrte er noch, als der erste Schritt über den Abgrund schon getan war. Als Wolffs letzter Leitartikel im „Berliner Tagblatt“ am Sonntag der Reichstagswahl vom 5. März 1933 unter der Titelzeile „Geht hin und wählt!“ erschien, waren die wichtigsten Grundrechte der Weimarer Verfassung bereits außer Kraft gesetzt. Ermächtigt durch die Notverordnung nach dem Reichstagsbrand vom 27. Februar verschleppten die Nazis tausende politische Gegner, prügelten die Opposition mundtot – aber auch, wenn sie nicht frei war, diese Wahl, das Volk hatte sie doch. Sie war geheim und blieb für lange Zeit die letzte in Deutschland. 43,9 Prozent der abgegebenen Stimmen entfielen auf die NSDAP. Theodor Wolff floh über die Schweiz nach Frankreich, wo er im Mai 1943 der Gestapo in die Hände fiel. Im KZ Sachsenhausen erkrankte er an einer Infektion, vor 70 Jahren, am 23. September 1943 starb er im Jüdischen Krankenhaus in Berlin. 
Am heutigen Sonntag sind 61,8 Millionen Bürger aufgerufen, den 18. Deutschen Bundestag zu wählen. Das Interesse der Wähler war zuletzt so niedrig wie nie zuvor. 27,8 Prozent der Wahlberechtigten enthielten sich 2009 ihrer Stimme. Ein historischer Höchststand. Grund genug, Theodor Wolffs Leitartikel noch einmal im Wortlaut zu zitieren. Geht hin und wählt! Ein stimmgewaltiger Appell, der mahnt. Und erinnert: an ganz andere Verhältnisse.


Theodor Wolff (1868-1943)

  
„Wahlkampf? – seit dem Brand des Reichstagshauses hat er, in Preußen wenigstens, vollends aufgehört. Das Wort ‚Kampf’ setzt ja wohl voraus, daß Kämpfer, mit den Waffen des Geistes und der Sprache gerüstet, einander kampffähig gegenüberstehen. Solche Kampffähigkeit gab und gibt es für die Gegner der heutigen Regierung nicht. Auch die ruhigsten, einwandfreiesten, stets auf die Wahrung der staatlichen Ordnung bedachten Elemente unter ihnen sind mitbetroffen durch die ungeheuer scharfen Maßregeln, die dazu dienen sollen, den Kommunismus, und den Marxismus in all seinen Schattierungen, niederzuzwingen. Ward je in solcher Lage ein Reichstag gewählt?
       
Die freigesinnten Staatsbürger wissen, was für sie und für ihre Ideen von einer kommunistischen Herrschaft zu erwarten wäre, von ihren Methoden und von ihren Theorien. Die andere, die Moskauer Diktatur, und statt des rechten Fußes der linke auf dem Nacken der Demokratie. Sie machen allerdings einen Unterschied zwischen diesem deutschen Kommunismus, der seine Weisungen von den Machthabern Sowjetrußlands empfängt, und der deutschen Sozialdemokratie, die von Moskau stets nur höhnische Anklagen und grimmigste Schläge empfangen hat. Sie unterscheiden zwischen einer antiparlamentarischen Umsturzpartei, die so lange bewußt und konsequent alle Möglichkeiten parlamentarischer Arbeit und Ordnung zerstörte, bis die Unordnung den Boden für die heutigen Zustände bereitete, und der anderen Partei, die in der Erkenntnis der Staatsnotwendigkeiten gemeinsam mit bürgerlichen Widersachern ihrer Doktrin den schweren Weg ging, auf populäre Forderungen verzichtete und bisher ein Damm zwischen dem Bolschewismus und der bürgerlichen Gesellschaft war. Zu dieser realistischen Auffassung haben sich vierzehn Jahre lang Volkskreise und Männer bekannt, die weit entfernt von einer Hinneigung zur sozialistischen Weltanschauung sind. Und es braucht nicht erst daran erinnert zu werden, daß auch Hindenburg den Wert einigenden Zusammenwirkens anerkannte, als er sich mit Ebert über die Überwindung des Chaos verständigte und als er Hermann Müller auf den Kanzlerposten berief.
       
Aber es handelt sich für die nichtsozialistischen Freigesinnten heute nicht darum, den Anwalt der angeklagten Sozialdemokratie zu spielen, die ihre Sache selber vertreten kann. Es handelt sich, obgleich jede Meinung an diesem Tage ihren Ausdruck in der Stimmabgabe für irgendeine Partei findet, heute um viel mehr, um etwas anderes und Weiteres als all das, was auch der größte Parteirahmen umspannt. Gewiß mag es nichtig und gegenwartsfremd erscheinen, wenn man in einem Augenblick, wo als unmittelbare Nachwirkung des Reichstagsbrandes eine so drakonische Einschränkung der persönlichen Rechte erfolgt ist, von staatlicher und staatsbürgerlicher Freiheit spricht. Aber hinter der Periode der Ausnahmebestimmungen, die auch nach der von den Regierenden gegebenen Erläuterung nur Ausnahmebestimmungen sein und zur Niederhaltung verbrecherischer Gewalten dienen sollen, muß irgendwie und irgendwann eine andere Periode kommen, in der nicht mehr das ganze Leben eines Volkes unter dem qualmenden Feuerschein jenes ungeheuerlichen Abends liegt. Die Geschichtsbücher lehren, daß der Weg der Menschheitsentwicklung immer wieder ein Weg zur individuellen Freiheit war. Die Geschichtsbücher und ihre Lehren sind in den Reichstagsflammen nicht mitverbrannt.
       
Berliner Tageblatt vom 5.3.1933
Keine Notverordnung hat dem Staatsbürger das Recht genommen oder angetastet, am heutigen Tage zur Wahl zu gehen. Soweit auch sonst die Aufsichtsbefugnisse reichen, die geheime Wahl soll geschützt werden, diese Garantie bleibt bestehen. Wir fordern nicht auf, für irgendeine bestimmte Partei, für die eine oder die andere zu stimmen. Jeder wird wählen, wie es ihm seine Überlegung empfiehlt. Jeder, der in Freiheit, Sicherheit, Rechtsgleichheit und Heimatglück die höchsten Lebensgüter sieht, wird seine Stimme denjenigen geben, mit denen er sich einig in diesen Ideen fühlt. Für Freiheit, Sicherheit, Rechtsgleichheit und Heimatglück. Einen Wahlkampf hat es, für die Anhänger freiheitlicher Prinzipien wenigstens, nicht gegeben, aber hätten laute Versammlungsreden und gedruckte Wortfülle noch viel zur Erkenntnis beitragen können? Es gibt eine Wahl ohne Wahlkampf, und wer an diesem Tage den möglichen Übergang zu neuen, anderen Tagen schaffen will, der handelt danach und geht hin und wählt!“


Theodor Wolff in Wikipedia

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Freitag, 23. August 2013

Schulschwänzer in Berlin: Der Staat versagt – und wird teuer bezahlen


Wie viel Schutz, wie viel Fürsorge kann ein Kind vom Staat erwarten, wenn es drauf ankommt. Offenbar zu wenig, wie der Fall des 17-jährigen Analphabeten zeigt, dessen Mutter jetzt  zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wurde, nachdem ihr Sohn mehr als 1000 Schultage geschwänzt hat.
Die Hartz-IV-Empfängerin saß allein auf der Anklagebank. Doch versagt haben andere nicht weniger als sie. Auch Schulamt, Jugendamt, deren Aufsichtsbehörden und nicht zuletzt die politisch Verantwortlichen sind ihrem Erziehungsauftrag und ihrer Fürsorgepflicht nicht gerecht geworden. Und sie werden es in vielen vergleichbaren Fällen nicht. Allein im vergangenen Schuljahr fehlten in Berlin mehr als 3500 Kinder und Jugendliche zehnmal oder häufiger unentschuldigt, darunter waren rund 630 Schüler, die sogar 40 oder mehr unentschuldigte Fehltage hatten.
Diese Jungen und Mädchen berauben sich selbst, ohne dass sie es in ihrem Alter begreifen und in den Konsequenzen ermessen können, eines elementaren Bürgerrechts. Und bringen sich damit um eine selbstbestimmte Zukunft. Wenn nach zehn Jahren die Schulpflicht endet, wird ein großer Teil der Schulschwänzer ohne Abschluss, ohne berufliche Perspektive dastehen und dem Staat dauerhaft als Empfänger von Sozialleistungen auf der Tasche liegen.
Wie viele solcher halben Kaspar Hauser kann sich Berlin leisten? Eigentlich nicht einen einzigen. Schon heute beklagen Unternehmen die mangelnden Qualifikationen von Schulabgängern und können Ausbildungsplätze nicht besetzen, weil geeignete Bewerber fehlen.
Das Recht auf Bildung hat Verfassungsrang. Der Zugang zu Schule und Ausbildung ist Voraussetzung für die freie Persönlichkeitsbildung und die gesellschaftliche Teilhabe des Einzelnen. Um diese Rechte werden Schulschwänzer gebracht – auf ihre Kosten und die der Allgemeinheit. Denn der Staat zahlt in Zukunft für die Spätfolgen, die ungebildeten, perspektivlosen und hilfsbedürftigen Bürger, die er oft bis ans Lebensende finanziell unterstützen muss, ein Vielfaches mehr, als sich mit Kürzungen in der Kinder- und Jugendarbeit, in der Gewaltprävention, bei staatlichen Erziehungshilfen und schulbegleitenden Förderprogrammen in den zurückliegenden Jahren insgesamt zusammensparen ließ.
Und die Kinder? Die bezahlen für das staatliche Versagen mit Lebenschancen, im extremen Fall sogar mit dem Leben. Wie der sechsjährige Dennis aus Cottbus, dessen spurloses Verschwinden im Jahr 2001 lange niemandem auffiel, obwohl er schulpflichtig war. Als die Behörden aufmerksam wurden, ließen sie sich von den Eltern mit Ausreden hinhalten. Nach 18 Monaten fanden Polizisten die Leiche des verhungerten Jungen in der elterlichen Wohnung, verstaut in der Tiefkühltruhe.
Meldepflichten, Kontrollen und Sanktionsmittel sind seither verschärft worden. Geblieben ist, dass das Erziehungsrecht der Eltern meistens höher wiegt als die Verfassungsrechte von Kindern – jedenfalls, so lange die familiären Verhältnisse nicht vollkommen verwahrlost sind. Dieses Ungleichgewicht macht es den Behörden schwer, Kinder rechtzeitig in Obhut zu nehmen und ihnen zumindest zeitweise eine fürsorglichere Betreuung zuteil werden zu lassen als sie in ihren Elternhäusern möglich ist. Denn Bußgeldbescheide, Hausbesuche vom sozialpädagogischen Dienst oder Polizeieskorten zur Schule zeigen bei unzugänglichen Familien nur begrenzt Wirkung.
Im Zweifel müssen Kinder nicht immer bei ihren Eltern am besten aufgehoben sein. In jedem Fall aber haben junge Bürger einer zivilisierten Nation das Recht auf höhere Bildung als Kaspar Hauser.


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Freitag, 16. August 2013

Radler fahren sicherer...


...auf der Straße als auf dem Radweg. Das behauptet die Statistik.
Dass sie lügt, kann in Berlin jeder sehen – und am eigenen Leib erfahren

Willkommen auf der Straße, liebe Radfahrer. Auf dem glatten Asphalt geht’s schneller voran – und sicherer soll es auch sein als auf dem Fahrradweg. Doch dann knattert irgendein Mopedfahrer gefährlich dicht heran und schreit: „Hey, da ist ein Radweg!“ Trotz des Schrecks weist man beherrscht freundlich darauf hin, dass Radfahrer den nicht benutzen müssen; er solle doch mal die Straßenverkehrsordnung lesen. Aber dafür interessiert sich der Behelmte nicht. „Du hältst den ganzen Verkehr auf“, brüllt er und knattert stinkend davon. Radfahren ist ja so gesund.
Und je mehr Radler auf der Straße fahren, desto mehr Geld spart der Staat. Schließlich ist es viel billiger, ein paar zusätzliche Radstreifen auf die Straße zu malen und dafür die Fahrbahnen für Autos zu verengen, als bestehende Radwege instand zu halten. Jene Fahrradaktivisten, die Stimmung für die Demontage der blauen Gebotsschilder machen, welche Radfahrern zwingend vorschreiben, den Radweg zu benutzen, helfen in Berlin am Ende vor allem einem Senat, der die Ausgaben für die Radwege drastisch senken möchte. 
Der Mythos „Auf der Straße sind alle, die Räder unterm Hintern haben, sicherer als auf getrennten Wegen“, wirkt an dieser Stelle leider. Er verstärkt den Anschein, es werde etwas getan für die Verkehrsinfrastruktur – dabei ist das Gegenteil richtig: Ein großer Teil, nämlich die Radwege, wird dem Verfall preisgegeben. Und auf der verbleibenden Fläche, der Straße, kommen Autofahrer und Radfahrer weniger gut miteinander aus. Das kann jeder sehen – und am eigenen Leib erfahren. 
Und doch sieht es nicht jeder. Selbst passionierte Radfahrer wie Londons Bürgermeister Boris Johnson, erblicken in Berlin ein „Paradies für Fahrradfahrer, wo sich die helmlosen Horden über die weiten Alleen schlängeln und wo ein Mercedes ehrerbietig wartet, bis eine Familie seine schnurrende Motorhaube passiert hat“, wie Johnson kürzlich in einem Zeitungsbeitrag schrieb. Ja, der Anblick der vielen Radfahrer auf Berlins Straßen mag zu der Annahme verleiten, das Fahrrad sei das Gefährt der Könige im Verkehr. Dabei bleibt Radfahrern oft gar nichts anderes übrig als die Straße zu benutzen, weil die Radwege in erbärmlichem Zustand sind: von Baumwurzeln untertunnelte Holperpisten, zerklüftete Parcours, die nur noch mit Mountainbikes befahrbar sind. Von wegen Könige!
Aber an das Märchen von der erhöhten Sicherheit des Radfahrers auf der Straße glauben viele trotzdem. Warum? Moderne Mythen behaupten sich besonders hartnäckig, wenn sie mittels statistischer Kabbala wissenschaftliche Korrektheit vorgaukeln: Als Beleg für den Auf-der-Straße-sind-Fahrradfahrer-sicherer-Mythos dienen Studien, denen zufolge die Gefahr für Radfahrer, bei schweren Verkehrsunfällen mit Autos getötet oder verletzt zu werden, geringer ist, wenn sie auf der Straße fahren und nicht auf dem Radweg. Das mag stimmen, solange man nur die absoluten Unfallzahlen miteinander vergleicht.
Doch diese Zahlen lügen: Sie verschweigen, dass ein signifikanter Anteil von Fahrradfahrern die Straße meidet, selbst wenn es sicherer wäre, dort zu fahren als auf dem Radweg. Und das ist ausgerechnet jene Gruppe der älteren Verkehrsteilnehmer, die mit Abstand am häufigsten zu Opfern schwerer Radunfälle werden. Dass diese Menschen sich gar nicht trauen, mit dem Fahrrad auf der Straße zu fahren, ist ein Grund, dass die Unfallbilanz dort gleich besser aussieht. Die Alten bleiben entweder auf den Radwegen, oder sie geben – was sich unfallstatistisch nicht mehr erfassen lässt – das Radfahren auf, weil die maroden Strecken zu gefährlich werden. So führt der Mythos von der sicheren Straße auch dazu, dass gerade ältere Radfahrer einen Teil ihrer Mobilität einbüßen.
Die Straße bleibt nur den Starken – und Halbstarken. Der Radverkehr nimmt zu, der gemeinsam genutzte Verkehrsraum wird fortwährend kleiner, das erhöht den Stress aller Beteiligten. Sie schneiden sich und werden geschnitten, sie beleidigen und drohen sich. Und offenbar erhöht die ständige Gefahr auch die Vorsicht. Anders ist wohl kaum zu erklären, dass so wenig passiert.


Tagesspiegel vom 17.08.2013, Sonnabendbeilage MEHR BERLIN

Freitag, 2. August 2013

Macht nix

Ach, liebe Leserinnen und Leser, wie man’s macht, macht man’s verkehrt. Besonders, wenn es um die Macht geht. Denn wer die Macht hat, kann es niemandem recht machen. Macht nix, das kann sich allenfalls Angela Merkel sagen. An der Bundeskanzlerin prallen Affären ebenso ab wie Kanzlerkandidaten. NSA-Skandal, Eurohawk-Desaster, Steinbrück – keine ernsthaften Gefahren für die Teflonpfanne im Hosenanzug. Eine Mehrheit der Wähler weiß das offenbar zu schätzen. Aber so standhaft und erfolgreich wie die Pastorentochter aus Templin trotzen nur wenige Spitzenpolitiker der Realität. Wir haben uns mal ganz willkürlich ein paar Beispiele herausgegriffen.

MATTHIAS PLATZECK
Der Realität trotzen. Wer meint, mindestens das hat man in der DDR gelernt, sieht sich getäuscht. Brandenburgs Ministerpräsident gibt sein Amt mit Rücksicht auf die eigene Gesundheit auf. Platzeck konnte einfach alles: Ihm gehorchte das Hochwasser, kurze Zeit sogar die Bundes-SPD. Flughafen retten, den linken Koalitionspartner entzaubern, einmal im Jahr jedem im Land die Hand schütteln und ihm zuhören, wo der Schuh drückt, das geht an die Substanz. Mit unter 80 Wochenstunden Arbeitszeit ist der Landesvater „mit Lust und Leidenschaft“ für Platzeck nicht vorstellbar – und für seine Ärzte nicht länger verantwortbar.

KLAUS WOWEREIT
Von Berlins Regierendem Bürgermeister hätte Platzeck frühzeitig lernen können, wie man Überstunden auf angenehme Weise anhäuft, indem man die Nächte durchregiert. Hier mal eine Modemesse eröffnen, dort Bussifeste bei Udo Walz, dazu ein paar Gläser Champagner, so fällt das lange Warten auf den Hauptstadtflughafen leicht. Lust zum Regieren hat Wowereit trotzdem nicht mehr. Aber in der SPD will’s ja sonst keiner machen.

FRANK HENKEL
Als Oppositionsführer empfahl sich der CDU-Innenexperte als Law-and-Order-Mann, als Innensenator verstolperte er sich fast in einer V-Mann-Affäre. Und wurde schmallippig. Der Senatsvizechef ist inzwischen so still geworden, dass er Regierender werden könnte, ohne dass die Berliner es überhaupt bemerken.

CHRISTIAN STRÖBELE
Der 74-jährige Kreuzberg-Friedrichshainer Direktkandidat der Grünen will wohl höchstens noch Alterspräsident des Bundestages werden. Dabei weiß der Mann so viel. Sollte Ströbele in einer rot-grünen Regierung jemals was zu sagen bekommen, so ist hinter vorgehaltener Hand aus Geheimdienstkreisen zu hören, würden viele deutsche Agenten gleich ganz zu befreundeten Diensten überlaufen.


Erschienen im Tagesspiegel vom 03.08.2013, MEHR BERLIN

Montag, 29. Juli 2013

Nackt = friedfertig


Ach, liebe Leserinnen und Leser, diese Hitze! Wir dachten schon, sie sei auch Londons Bürgermeister Boris Johnson zu Kopf gestiegen, als er diese Woche in der britischen Tageszeitung „Telegraph“ von seinem Berlin-Besuch schwärmte und unsere Stadt in den azurblauen Himmel lobte. So lässig, relaxed und freizügig seien wir inzwischen, dass vor diesem Deutschland niemand in Europa mehr Angst haben müsse. Seine These: Von Leuten, die nackt im Park rumhängen und sich zum Sex in die Büsche schlagen, ist kein Angriffskrieg zu befürchten. Aber wird dieses Berlin-Bild auch in den gebeutelten EU-Krisenländern des Südens geteilt. Wir haben uns umgehört.

Der Grieche. „Kalimera! Ja, ja, habe ich gelesen. Natürlich, Berlin ist eine wunderschöne Stadt“, versichert Botschaftsrat Athanassios Lambrou. „Nur in einem Punkt hat Johnson unrecht: Dass die Mieten niedrig sind, kann man nicht behaupten.“ Er selbst sei erst vor kurzem hergezogen. „Ich habe eine 120-Quadratmeter-Wohnung gefunden und zahle 2000 Euro Miete. Das ist nicht gerade billig.“ Für das Geld bewohnt Lambrou aber keine Bruchbude – anders als mancher junger Grieche, der wegen fehlender Jobs in der Heimat ebenfalls sein Glück in Berlin sucht. Wegen der Mietpreise macht Athanassios Lambrou der deutschen Kanzlerin keine Vorwürfe.

Der Italiener. Der Ruf Angela Merkels, in den Südstaaten nicht selten als unbarmherzige Euro-Domina gescholten, lässt das Hipness-Image der Hauptstadt völlig unbeschadet. Dass es im sommerlichen Berlin womöglich nur deshalb so schön sei, weil die Kanzlerin Ferien macht, könne man gewiss nicht bestätigen, heißt es aus der italienischen Botschaft. Überhaupt sei auf die Anfrage für den „satirischen Wochenrückblick“ nur eine formelle Stellungnahme möglich. Beppe Grillo klingt anders.

Der Portugiese.  Fühlt sich hier zu Hause, weil „wir ebenso wie die Berliner eine offene und tolerante Seele haben“, sagt Luís de Almeida Sampaio. Auch darum sei er Botschafter in Berlin geworden und nicht in London. „Läge Berlin an der Atlantikküste, könnte es vielleicht eine noch lebenswertere Stadt als Lissabon sein.“

Der Spanier. „Ich bin ein großer Freund von Berlin“, sagt Pablo Lopez, spanischer Botschaftsrat. „Die Stadt ist so grün, viel Natur“ – er könne gut verstehen, dass viele Spanier die Freizügigkeit nutzten, um hier neue Erfahrungen zu sammeln. In den Grünanlagen? Oh, nein! Lopez meint das Recht aller EU-Bürger, Arbeit und Wohnort innerhalb der Union frei bestimmen zu können. Nackt im Park sei der Spanier selbst eher nicht so gerne.


Erschienen im Tagesspiegel vom 27.07.2013, MEHR BERLIN

Mittwoch, 3. Juli 2013

Leise hüpfen

Was macht die Familie? Wie ein Vater die Stadt erleben kann

Ohne Kinder wäre diese Stadt erwachsener, stiller. Vermutlich sogar friedlicher. Bevor wir das Trampolin in unserem Innenhofgarten aufgestellt hatten, war die Hausgemeinschaft mehrheitlich damit einverstanden. Jetzt ist die Atmosphäre irgendwie angespannt. Unser Hausverwalter lud zu einer außerordentlichen Eigentümerversammlung im Garten ein. Etwa ein Dutzend Bewohner erschien zu einem klärenden Gespräch. Gewichtige Fragen, über die sich die Eltern (uns eingeschlossen) keine Gedanken gemacht hatten, als sie das Trampolin gekauft und aufgestellt hatten, wurden erörtert: Stellt das Trampolin eine bauliche Veränderung der Gartenanlage dar? Welche wechselnden Standorte kommen infrage, um die Belastungen für die Hausbewohner möglichst gerecht zu verteilen? Müssen die Eltern das Spielgerät ständig beaufsichtigen? Der Verwalter verteilte Kopien mit einschlägigen Gerichtsurteilen.
Eine Anwohnerin verwies auf die Verkehrssicherungspflicht und den Haftungsausschluss für die Eigentümergemeinschaft gemäß der „Trampolinentscheidung“ des Bundesgerichtshofs (VI ZR 223/07, Urteil vom 3.6.2008).
Während die anwesenden Erwachsenen Argumente wogen, hüpften nebenan unsere Kinder auf dem neuen Spielgerät, damit die Versammlung sich einen Eindruck von der Lärmimmission des Vergnügens verschaffen konnte. Der in normaler Gesprächslautstärke und ohne richterliche Hilfe erzielte Kompromiss sieht nunmehr feste Nutzungs- und Ruhezeiten vor. Hüpfverbot täglich von 13 bis 15 Uhr, und am Wochenende dürfen Kinder den Innenhof erst ab 11 Uhr betreten.
Unsere Hausfriedensvereinbarung sieht jetzt strengere Regeln vor als das Landesimmissionsgesetz, das erst vor zwei Jahren zugunsten des Kinderlärms liberalisiert wurde. Darin heißt es: „Störende Geräusche, die von Kindern ausgehen, sind als Ausdruck selbstverständlicher kindlicher Entfaltung und zur Erhaltung kindgerechter Entwicklungsmöglichkeiten grundsätzlich sozialadäquat und damit zumutbar.“
Es gilt aber anzuerkennen, dass Großstadtbewohner gerade zu Hause ein ausgeprägtes Ruhebedürfnis und ein Recht darauf haben, sich vom lärmenden Betrieb draußen erholen zu können. Als Vater einer sechs- und einer zehnjährigen Tochter habe ich dafür großes Verständnis: In unserer Wohnung ist nur Ruhe, wenn die Kinder schlafen.
Inzwischen haben Kinder ja ohnehin kaum noch Zeit zum freien Lärmen, dank ihrer Vollbeschäftigung in ganztagsbetreuten Kitas und Schulen, in Sportvereinen, Musikstunden und etlichen Pflichtterminen mehr. Nur die Ferien bleiben ein Problem. Zwar verreisen viele Kinder mit ihren Eltern, aber die übrigen können dafür umso mehr nerven. Hier müsste der Senat was für den Lärmschutz tun: Wie wäre es mit einem großen Sommercamp, einem Zeltlager draußen vor der Stadt, irgendwo in der Nähe vom Flughafen Schönefeld, wo sie niemanden stören, die kleinen Krachmacher? | Stephan Wiehler

Innere Ruhe finden Sie im Buddhistischen Meditationszentrum Lotus Vihara, Neue Blumenstraße 5 in Mitte (U-Bhf. Schillingstraße). Jeden Sonntag ab 18 Uhr gibt es eine Einführung für Anfänger. Infos unter www.lotus-vihara.de

Dieser Beitrag im Tagesspiegel vom 1. Juli 2013